Sie war ein Markenzeichen von Günter Grass: die Pfeife Foto: dpa

Günter Grass ist zweifelsohne eine herausragende, wenn auch umstrittene Figur der Zeitgeschichte. Er war Schriftsteller und auch Schrittmacher für politische Entwicklungen. Ein Kommentar von unserem Kulturchef Nikolai B. Forstbauer.

Stuttgart/Lübeck - Kunst und Politik sind im aktuellen Deutschland weit voneinander entfernt. Das war Ende der 1960er Jahre und in den frühen 1970er Jahren anders. Ob Schriftsteller oder Bildende Künstler – viele sehen die Chance zum Aufbruch. Mittendrin: Günter Grass.

Eng verbunden mit dem Einzug von Willy Brandt ins Kanzleramt 1969 und mit der Kampagne zur Wiederwahl Brandts 1972, fühlen sich westdeutsche Intellektuelle als Schrittmacher einer auf Aussöhnung mit den osteuropäischen Staaten und auf gesellschaftliche Offenheit dringenden Politik.

Das neue Tempo sieht Grass bald kritisch. Denn noch ist für ihn die Vergangenheit nicht wirklich vergangen. Vernichtungskrieg und Völkermord in deutschem Namen geraten für ihn ebenso zu schnell aus dem Blick wie Flucht und Vertreibung.

Grass’ Vision ist von Beginn an klar: ein freies, ein sich seiner Unterschiede bewusstes Europa. Der Literat skizziert es 1959 in der „Blechtrommel“, der politische Mahner klagt es ein, immer wieder – und kritisiert auch das Tempo der deutschen Wiedervereinigung. In solcher Rolle werden Fehler nicht verziehen.

Grass macht diesen Fehler. Am 12. August 2006 erklärt er, dass er bei Kriegsende 1945 in der Waffen-SS gedient hatte. Wissentlich? Unwissentlich? Egal.

Der Kritiker Grass wird zum Angeklagten, wird selbst einer derjenigen, für die Wahrheit mitunter nur ein Wort ist. Unerträglich aber ist nicht das Agieren als Ladeschütze in den letzten Kriegstagen, sondern die aufgesetzt wirkende Annäherung an das Thema. Die Politik geht endgültig wieder auf Abstand zur Kunst.

Günter Grass hat ungewollt mit dafür gesorgt – leider. Seine Rolle in der Bonner Republik ist nicht wiederholbar. Dabei gilt doch: Wer auf Gegenrede verzichtet, bringt sich selbst um Chancen.