Der Germanist Volker Neuhaus (72) hat eine Biografie zu Günter Grass geschrieben Foto: dpa

Der Germanist Volker Neuhaus sieht das Werk von Günter Grass als Bestandteil der klassischen deutschen Literatur. Er hat auch eine Biografie zu Grass geschrieben.

Herr Neuhaus, Günter Grass hat vor seinem Tod noch ein Werk nahezu vollendet – „Vonne Endlichkait“. Was erwartet die Leser?
Grass hat einmal gesagt, kein größeres Prosawerk mehr beginnen zu wollen, da er nicht wisse, ob er die dafür erforderliche Frist von mehreren Jahren noch haben werde – zu Recht, wie sich jetzt leider gezeigt hat. Was den Charakter des neuen Werks angeht, sollte man in das von der Grass-Stiftung herausgegebene Periodikum „Freipass“ aus diesem Frühjahr blicken – da findet sich ein Vorabdruck aus dem neuen, noch von Grass komplett fertiggestellten Band.
In den Nachrufen ist der Nobelpreisträger immer wieder in die literarische Ahnenreihe mit Goethe und Thomas Mann gestellt worden. Halten Sie diese Vergleiche für angemessen?
Der Vergleich geht auf mich zurück: Goethe, Thomas Mann und Grass haben als einzige deutschsprachige Autoren alle drei mit einem Erstlings- und Jugendroman Weltruhm geerntet („Werther“, „Buddenbrooks“, „Blechtrommel“) und waren ab dann kontinuierlich einer weltweiten Resonanz sicher. Alle drei haben um ihr 50. Lebensjahr einen zweiten Riesenerfolg gehabt („Wilhelm Meisters Lehrjahre“ national, „Der Zauberberg“, „Der Butt“ weltweit) und sind bis über das 80. Lebensjahr hinaus sowohl dichterisch produktiv als auch international präsent gewesen. Das sind schlagende Parallelen.
Welche Grass-Werke haben das Zeug zum Klassiker?
„Die Blechtrommel“ gilt jetzt schon weltweit als das wichtigste literarische Werk aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihre bruchlose Verschmelzung der größten europäischen Romantradition des Pikaroromans, der die Welt aus der Perspektive von unten und von ihrer Kehrseite her sieht und schildert, mit dem spezifisch deutschen Künstlerroman von Goethes „Wilhelm Meister“ bis Thomas Manns „Dr. Faustus“ zu einem Panorama des sehr „deutschen“ 20. Jahrhunderts vom Kaiserreich bis zur Adenauer-Ära in einer meisterlich instrumentierten Sprache, wie sie alle Grass-Werke kennzeichnet, hat einen Individual- und Gesellschaftsroman des für das 20. Jahrhundert repräsentativen „kleinen Mannes“ geschaffen, der mit kaum einem anderen Werk der westlichen Weltliteratur vergleichbar ist.