Ein Andrang wie bei einem Popkonzert: Gorbi-Fans am 14. Juni 1989 vor dem Neuen Schloss in Stuttgart. Foto: imago stock&people

Erinnerungen an einen Staatsbesuch der Sonderklasse: Lothar Späth hatte die Gorbatschows im Wendejahr 1989 nach Stuttgart gelotst.

Die Nachricht vom Tod Michail Gorbatschows ruft ein Ereignis in Erinnerung, das Stuttgart, den damaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth, aber auch einzelne Stuttgarterinnen und Stuttgarter kurzzeitig ins internationale Rampenlicht katapultiert hat. Die Rede ist vom Staatsbesuch des damaligen Kremlchefs und seiner Frau Raissa am 14. Juni 1989 in der Landeshauptstadt, wenige Monate bevor die Berliner Mauer fiel. Ein Großereignis, auch für die Stuttgarter Medien, die den Gorbatschow-Besuch Punkt für Punkt protokollierten – beginnend von der Ankunft am Flughafen in Echterdingen über die Fahrt in die City, dem Bad in der Menge vor dem Neuen Schloss, den politischen Gesprächen und dem Damenprogramm: einem Besuch bei einer „typisch schwäbischen Familie“.

In den „Stuttgarter Nachrichten“ las sich das so: „Die Stimmung ist grad wie bei Königs Geburtstag. Die Bürgerwehr spielt ,Preußens Gloria‘, in Zehnerreihen steht das Volk dicht gedrängt am Schlossplatz, einige schwenken Fähnchen mit dem Sowjetstern, 50 Pfennig das Stück, andere üben sich im Stakkato der ,Gorbi-Rufe‘ oder im rhythmischen ,Kalinka‘: Michael Gorbatschow in Stuttgart. Zehntausende harren stundenlang lammfromm in der Sonne aus, um ihn und Frau Raissa zu sehen. Gorbi und die Stuttgarter – das ist eine kurze, aber heftige Demonstration der Zuneigung.“

Erinnerungen des Protokollchefs Albrecht Rittmann

Der damalige Protokollchef des Staatsministeriums, Albrecht Rittmann, hat den Tag in persönlichen Notizen festgehalten. Anlässlich des Todes von Gorbatschow hat er unserer Redaktion diese Erinnerungen zugänglich gemacht. „Die Geschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts“, schreibt er, „hätte ohne Gorbatschow anders ausgesehen. Die vielen Menschen, die an Stuttgarts Straßen standen, spürten, dass sie einen Zipfel der Weltgeschichte erwischten, als sie die Wagenkolonne mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef vorbeifahren sahen. Es war ein Tag, den man gemeinhin historisch nennt.“

Dass die Gorbatschows im Rahmen eines dreitägigen Staatsbesuchs überhaupt nach Stuttgart kamen, hat viel mit Lothar Späth zu tun. Späth, so Rittmann, „erkannte bei seinem Regierungsantritt 1978 die außenpolitischen Defizite der CDU und setzte im Laufe der Jahre zunehmend mit einer eigenen Außenpolitik schneller als der Bundeskanzler neue Akzente mit bundesweiter Wirkung. Das gefiel nicht jedem in Bonn. Außenpolitik gehört nicht zu den Kompetenzen eines Ministerpräsidenten. Mit seiner dominierenden Persönlichkeit wurde er auch schnell als Rivale von Helmut Kohl gesehen.“

Späth sah offenbar die Aussicht auf eine Vermittlerrolle

Drei Reisen führten Späth nach Moskau. 1985, so erinnert sich Rittmann, fand dort die größte je im Ausland veranstaltete Industriemesse Baden-Württembergs statt: 143 Firmen und Repräsentanten der baden-württembergischen Industrie nahmen teil“. Kurz zuvor war Gorbatschow zum neuen Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei gewählt worden.

Die dritte Reise 1988 brachte Rittmann zufolge den Durchbruch für eine wirtschaftliche Annäherung: „Gorbatschow brauchte persönliche Kontakte zu westlichen Politikern, um für seine Vorstellungen einer ökonomischen Modernisierung das notwendige außenpolitische Umfeld zu schaffen.“ Seine Idee von einem gemeinsamen europäischen Haus habe umgekehrt Späth fasziniert. „Dieser sah die Chance einer Vermittlerrolle weit über die originären Zuständigkeiten eines Ministerpräsidenten hinaus.“ Im Raum stand Gorbatschows Wunsch nach einem Besuch von Bundeskanzler Kohl in Moskau. Dann, so der Vorschlag, könne er ein Jahr später die Bundesrepublik besuchen.

„Ein überglücklicher Lothar Späth an seiner Seite“

Der ehemalige Protokollchef ist sicher: „Mit dieser Aussage und der Absichtserklärung, in Stuttgart ein sowjetisches Kulturzentrum zu eröffnen, war der Keim eines Besuches nicht nur in Bonn, sondern auch in Stuttgart gelegt. Und so geschah es am 14. Juni 1989 auch.“ Rittmann hält fest: „Ich wusste, dass es ein außergewöhnlicher Besuch werden sollte; seit seiner Ankunft in der Bundeshauptstadt am 12. Juni breitete sich zunehmend eine Art Gorbimanie aus. Dass sich die Begeisterung für Gorbatschow in Stuttgart jedoch zu einem frenetischen Empfang steigerte, war unvorhersehbar . . . Mit einem überglücklichen Lothar Späth an der Seite ging Gorbatschow alle Sicherheitsbeamte beiseite schiebend, händeschüttelnd über den Schlossplatz.“