Neville Marriner Foto: dpa

1958 gründete er die Academy of St. Martin-in-the-Fields – und schrieb mit dem Kammerorchester Geschichte. Von 1983 bis 1989 leitete er das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart. An diesem Sonntag ist der Dirigent Neville Marriner gestorben.

Stuttgart - Da liegt sie ja noch, die CD-Box mit sämtlichen Sinfonien und sinfonischen Fragmenten Franz Schuberts: Damals, 1984, war sie noch Solitär in einem Regal, in dem sonst nur Schallplatten standen. Die Silberscheiben wurden so häufig gehört wie später kaum mehr andere Aufnahmen, und erst wenn man heute erneut hineinhört in das lauschende Kreisen der frühen Werke, in die immer wieder melancholisch getrübte italienische Sanglichkeit im Finale der sechsten und in die hier wahrhaft „himmlischen Längen“ der großen C-Dur-Sinfonie, dann spürt man, dass mit Neville Marrinerauch die Musik gealtert ist, die er hinterlassen hat. Es sind Einspielungen vor allem mit jenem Orchester, das der studierte Geiger, frustriert vom Musizieren in der Masse großer Londoner Klangkörper, selbst gründete und, dirigentisch geschult von seinem großen Vorbild Pierre Monteux, zu Weltruhm führte.

Die Academy of St. Martin in the Fields war und blieb das prominenteste Instrument des so lange ewig zeitlosen Musikers; zumal mit ihrer Hilfe hat er sich nachromantischem Pathos verwehrt – und ist am Ende doch von den leichtfüßigen Ensembles der historisch informierten Aufführungspraxis überholt worden. Das filigrane, lichte, oft spannende, aber nie verspannt wirkende Musizieren des vielleicht unspektakulärsten, sicherlich aber gelassensten aller Klang-Reformatoren haben andere, Jüngere zur Perfektion geführt. „Als Geiger, der kein Virtuose ist,“ begründete Marriner selbst einmal seinen Weg vom Orchestermusiker zum Dirigenten, „ist es schwierig auszudrücken, was man fühlt – ein Dirigent ist mit dem Endprodukt zufriedener.“

Mozarts Sinfonien machten Ende der 50er Jahre den Anfang. Dass ausgerechnet Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ 1970 die kometenhafte Karriere der in Besetzung und Repertoire ungemein wandelbaren Academy befeuerten, ist angesichts heutiger, brillanter Konkurrenz kaum mehr zu glauben. Die meisten seiner gut 600 Tonaufnahmen (das toppte wohl nur Herbert von Karajan) hat Marriner mit „seinem“ Ensemble gemacht; darunter auch 1984 die Filmmusik zum Filmhit „Amadeus“, die für einen erneuten Popularitätsschub sorgte – und für den Ritterschlag, der ihm den Titel Sir bescherte. Es spricht für sich, dass es ausgerechnet Marriner war, der Milos Formans Entmystifizierung des Genies Mozart mit Klängen ohne Patina begleitete. Und überhaupt hat der Dirigent wohl am überzeugendsten und folgenreichsten bei Mozarts Werken gewirkt: Seine Einspielungen des Requiems, der drei Da-Ponte-Opern und der Klavierkonzerte mit Alfred Brendel machten Geschichte. Sie stehen für eine werkdienliche Haltung, für Bescheidenheit – und hohe Verlässlichkeit. Der weiße Rollkragenpullover, der Marriners Markenzeichen wurde, passte irgendwie dazu.