John Ashbery (1927-2017) hat mehr Preise gewonnen als jeder andere moderne amerikanische Lyriker. Foto: AP

Man könne die Gedichte John Ahsberys nicht beurteilen, man könne sie ja nicht einmal verstehen, lästerten manche Kritiker. Trotzdem wurde der nun im Alter von neunzig Jahren Gestorbene zu einer zentralen Figur der amerikanischen Literatur. Mit weihevollem Sehergehabe hatte Ashbery, ein Freund Andy Warhols, nichts am Hut.

Stuttgart - Kein anderer amerikanischer Dichter der Moderne hatte so viele Preise gewonnen wie John Ashbery, unter anderem den National Book Award und den Pulitzer Prize. Und kein anderer war so umstritten. Das war auch stets das erste, was man über ihn erfuhr. Kaum, dass man über seinen Namen stolperte, flog einem auch schon die Information zu, die einen hielten den nun am 3. September im Alter von 90 Jahren Gestorbenen für ein Genie, die anderen für einen Scharlatan. Bei Ashbery erfasste diese Spaltung aber nicht nur die Gruppe der Gelegenheitsleser, sondern auch die der Profikritiker und Poetenkollegen. Man könne dieses Werk nicht beurteilen, lautete die höfliche Variante der Ablehnung, weil es schlicht unverständlich sei. Ashbery, der seinen Lebensunterhalt als Kunstkritiker und Literaturdozent verdiente, leistete dem Vorurteil mit dem Satz Vorschub, er würde am liebsten einmal ein Gedicht schreiben, zu dessen Diskussion die Kritiker nicht einmal Worte fänden.

Dabei war Ashbery, dessen Gedichte unter anderem von Durs Grünbein und Joachim Sartorius ins Deutsche übertragen wurden, keiner, der erfundene und verballhornte Worte in sprunghafter Fiebergrammatik zu unentwirrbaren Knäueln verheddert hätte. Er schrieb konventionelle Sätze, reihte sie aber zu unkonventionellen Ketten. Er bildete in seinem Schreiben lieber das schnelle, wechselfrohe Durcheinander der Gedanken ab, statt deren gefiltertes, sortiertes, aufgeputztes Destillat anzubieten.

Neues Publikum dank MTV

Da kann es denn auch nicht verwundern, dass dieser Avantgardist, der die heikelste moderne Lyrik ebenso wie Kriminalromane aus dem Französischen übersetzte, vor zehn Jahren vom MTV-Ableger MtvU, einem reinen Campus-Sender, als erster Hauspoet ausgewählt wurde: In 18 Spots wurden Auszüge seiner Gedichte präsentiert. Die angeblich extremste, unzugänglichste Sonderlingslyrik wurde als Popkultur offenbar. Ashbery wird das genossen haben, war er doch ein früher Unterstützer Andy Warhols, mit dem ihn eine Freundschaft verband. Er verortete sein Schaffen bei den spielerischen Experimenten des Factory-Gründers, nicht beim weihevollen Sehergehabe traditioneller Dichterfürsten. Und wer ihm – im privaten Umfeld etwa mit seinem Ehemann David Kermani oder bei Lesungen und Vorlesungen – begegnete und seine Gedichte vortragen hörte, ging oft bekehrt von dannen. Ashberys Werk erschien dann nicht mehr wie unverständliche Wirrnis, sondern wie die neugierige Erkundung des Durcheinanders in Kopf und Herz.