Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit. Foto: dpa

Eineinhalb Wochen nach der Bundestagswahl herrscht auch am Tag der Deutschen Einheit Unsicherheit. Bundespräsident Steinmeier warnt, „Abhaken und weiter so“ dürfe es nicht geben.

Mainz - Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am Tag der Deutschen Einheit vor neuen Mauern in der Gesellschaft gewarnt. Er forderte zugleich einen ehrlichen Umgang mit dem Flüchtlingsproblem. „Die große Mauer quer durch unser Land ist weg“, sagte Steinmeier am Dienstag bei der zentralen Feier in Mainz. Aber das Wahlergebnis vom 24. September habe gezeigt: „Es sind andere Mauern entstanden, weniger sichtbare, ohne Stacheldraht und Todesstreifen.“ Gewachsen sei die Sehnsucht nach Heimat, die nicht Nationalisten überlassen werden dürfe. Bei der Wahl hatten Union und SPD deutliche Verluste erlitten, die AfD war auf 12,6 Prozent gewachsen. Sie war vor allem im Osten stark.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hob die Verantwortung Deutschlands auf internationaler Ebene hervor. Man könne dankbar sein, dass die Wiedervereinigung in Frieden geglückt sei, sagte Merkel vor dem Festakt. Daher trage Deutschland auch eine Verantwortung für Europa und eine bessere Entwicklung weltweit. Die Aufgaben seien nicht weniger geworden. „Aber wir können auch zurückblicken und sagen: Vieles an der Deutschen Einheit ist uns geglückt, und das sollte uns die Kraft geben, auch die ausstehenden Probleme zu lösen.“ Eine Rede hielt Merkel beim Festakt nicht.

Argumente statt Empörung

Ohne den Wahlerfolg der AfD anzusprechen, betonte Steinmeier: „Mauern aus Entfremdung, Enttäuschung und Wut“ seien bei manchen so fest geworden, dass Argumente nicht mehr durchdrängen. Die Debatte über Flucht und Migration habe Deutschland aufgewühlt, sei aber auch Folge einer aufgewühlten Welt. Viele Menschen sagten: „Ich verstehe die Welt nicht mehr.“ Der Wunsch nach heimatlicher Sicherheit sei nicht zu verurteilen. „Heimat weist in die Zukunft“, sagte er. Aber: „Die Sehnsucht nach Heimat dürfen wir nicht denen überlassen, die Heimat konstruieren als ein „wir gegen die“, als Blödsinn von Blut und Boden.“

Der Bundespräsident forderte Argumente statt Empörung - vor allem bei der Flüchtlingspolitik. „Die Not von Menschen darf uns niemals gleichgültig sein“, sagte er, verwies aber auf begrenzte Möglichkeiten zur Aufnahme von Flüchtlingen. Steinmeier forderte eine Unterscheidung zwischen Flucht aus politischer Verfolgung und vor Armut. „Sie sind nicht dasselbe und begründen nicht den gleichen uneingeschränkten Anspruch.“ Notwendig sei ein ehrlicher Umgang mit dem Thema. Dazu gehöre die Frage, „welche und wie viel Zuwanderung wir wollen und vielleicht sogar brauchen.“ Notwendig seien legale Zugänge, Steuerung und Kontrolle. Dann könne die Polarisierung der Debatte überwunden werden.

Bundesratspräsidentin Malu Dreyer (SPD) hält eine neue Dialogkultur für nötig, um Wähler zurückzugewinnen. „Wir brauchen einen konstruktiven Streit, einen Stil, der Probleme erkennt, benennt und fair löst“, sagte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin. „Zusammen können wir auch unüberwindlich scheinende Hindernisse überwinden.“ Bisher prallten die gleichen Positionen unversöhnlich aufeinander. „In manchen Regionen haben Bürger und Bürgerinnen offenbar das Gefühl, ihre Lebensleistung werde nicht gewürdigt und ihre Furcht vor sozialem Abstieg nicht ernstgenommen.“

Kein Schlussstrich unter den Nationalsozialismus

Steinmeier warnte davor, einen Schlussstrich unter die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus zu ziehen. „Die Verantwortung vor unserer Geschichte kennt keine Schlussstriche“, sagte er. Mit Blick auf die Bundestagswahl betonte er, es dürfe kein „Abhaken und weiter so“ geben. Gefordert seien nicht zuletzt die Abgeordneten des neuen Bundestages. „Sie können beweisen, dass durch den Tabubruch vielleicht der nächste Talkshowplatz gesichert, aber kein einziges Problem gelöst ist.“

Steinmeier forderte mehr Anerkennung für die Menschen in Ostdeutschland. Nach der Wiedervereinigung 1990 seien auch Fehler gemacht worden. Darüber dürfe nicht geschwiegen werden. Ostdeutsche hätten Brüche erlebt, die die Menschen im Westen nie kannten. „Wo wir übereinander reden und übereinander hinweg, da sollten wir wieder lernen, einander zuzuhören: wo wir herkommen, wo wir hinwollen, was uns wichtig ist.“

Der Tag der Deutschen Einheit wurde in diesem Jahr in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt unter dem Motto „Zusammen sind wir Deutschland“ gefeiert. Zum Festakt kamen rund 1200 Gäste, darunter Steinmeier, der scheidende Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) und Merkel sowie fast alle Ministerpräsidenten. Bei einem Ökumenischen Gottesdienst im Dom rief der pfälzische evangelische Kirchenpräsident Christian Schad zuvor zu mehr gegenseitiger Toleranz auf. Im nächsten Jahr richtet Berlin die Feiern aus, der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) ist ab November Bundesratspräsident.