Zahlreiche DDR-Flüchtlinge aus der Prager Botschaft treffen am 5. Oktober 1989 im Bahnhof Hof ein – vor 25 Jahren beginnt in der damaligen DDR die friedliche Revolution Foto: dpa

Als Hof Geschichte schrieb: In der Nacht zum 1. Oktober 1989 und in folgenden Tagen wurden DDR-Bürger, die in die Botschaft Prag geflüchtet waren, per Zug über Dresden und Chemnitz nach Bayern gebracht. Rund tausend freiwillige Helfer sind für die überglücklichen und erschöpften Menschen im Einsatz.

Als Hof Geschichte schrieb: In der Nacht zum 1. Oktober 1989 und in folgenden Tagen wurden DDR-Bürger, die in die Botschaft Prag geflüchtet waren, per Zug über Dresden und Chemnitz nach Bayern gebracht. Rund tausend freiwillige Helfer sind für die überglücklichen und erschöpften Menschen im Einsatz.

 

Hof - Am 1. Oktober 1989 fährt um 6.14 Uhr ein Zug in den Bahnhof im oberfränkischen Hof ein, der in keinem Fahrplan steht. In den Waggons befinden sich dicht gedrängt rund 1000 DDR-Flüchtlinge. Ihr Schicksal war Stunden zuvor noch völlig ungewiss. Wochenlang harrten sie in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland aus und hofften auf ihre Ausreisegenehmigung. Die erlösenden Worte spricht der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 vom Balkon des Botschaftsgebäudes: „Ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise . . .“ Der Rest von Genschers Rede ist nicht mehr zu verstehen – sie geht im Jubel von 4000 Menschen unter.

Edith Söllner hat die Ankunft des ersten Sonderzuges mit Botschaftsflüchtlingen in der damaligen Grenzstadt Hof nie vergessen. Wenn sie davon erzählt, bekommt sie sofort Gänsehaut, schießen ihr Tränen in die Augen. „Die Leute haben uns von den Fenstern des Zuges aus zugejubelt. Dann sind sie freudestrahlend ausgestiegen und es lagen sich wildfremde Menschen einfach nur in den Armen. Es war herzergreifend.“ Söllner ist damals 37 Jahre alt und arbeitet für die Bahnhofsmission. Rund 1000 ehrenamtliche Helfer wie sie stehen rund um das Bahnhofsgelände bereit.

In der Not müssen alle zusammenhalten. Wer dabei war, wird die Bilder nicht mehr los: Menschen, die auf dem Luftsteg über den Gleisen Wunderkerzen in die Nacht halten. Die aus den Zugfenstern begeistert „Freiheit“ und „Deutschland – Vaterland“ rufen. Die sich auf den regennassen Bahnsteigen des Hauptbahnhofs drängen. Dann, als die Zugtüren sich endlich öffnen: Übermüdete, aber glückliche Kinder und Erwachsene. Nach langem Warten und Bangen betreten sie endlich westdeutschen Boden, lachen und weinen. Auch bei jenen, die zum Empfang gekommen sind, spielen die Gefühle Karussell. Man umarmt sich – und dann gibt es jede Menge zu tun.

Sozial- und Rettungsverbände haben in den Stunden vorher alles möglich gemacht, was in der kurzen Zeit ging. Alle arbeiten Hand in Hand. Für Alfred Hager ist es eine Bewährungsprobe. Der BRK-Kreiskolonnenführer aus Schwarzenbach an der Saale muss für Kreisbereitschaftsleiter Heinz Herzig, der im Krankenhaus liegt, den Einsatz leiten. Als Ansprechpartner auf der politischen Ebene steht Staatssekretär Horst Waffenschmidt, der damalige Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, zur Verfügung.

„Wir hatten erfahren, dass viele Kinder und auch Kranke mit in den Zügen sitzen. So ging es nicht nur darum, Betten aufzustellen und Nahrung sowie Kleidung heranzuschaffen – wir brauchten auch Medizin, Windeln und andere Hygieneartikel“, erinnert sich Hager. Das größte Problem: Wo bekommt man auf die Schnelle genügend Windeln her? Glücklicherweise gibt es da ein Notfall-Abkommen mit dem Hofer Zentralkauf-Supermarkt. Noch in der Nacht besorgen die Helfer alles, was gebraucht wird.

Die meisten Flüchtlinge haben nicht mehr als eine kleine Tasche bei sich. Der Bahnsteig wird zur provisorischen Notunterkunft. Tische werden aufgestellt, Kleiderspenden darauf gestapelt. Die Bevölkerung empfängt die Flüchtlinge mit Südfrüchten und Schokolade. Frauen des Bayrischen Roten Kreuzes (BRK) richten einen Wickeldienst für die Babys der DDR-Flüchtlinge ein. „Da hat niemand Nein gesagt, keiner auf die Uhr geschaut, da wurden keine Überstunden aufgeschrieben“, sagt Jürgen Stader von der Stadt Hof. Als junger Beamtenanwärter war er damals schon Stunden vor der Ankunft des ersten Zuges von seinem Chef telefonisch aus dem Wochenende geholt worden.

Mehrere Tage lang fahren immer wieder Sonderzüge aus Prag in Hof ein. Für tausende DDR-Flüchtlinge ist es der erste Ort, den sie in Freiheit sehen. Der damals 21 Jahre alte Markus Rindt erlebt die Geschehnisse aus einer ganz anderen Perspektive. Er sitzt in einem der Sonderzüge. Es sind Stunden zwischen Hoffen und Bangen: „Es waren Züge der DDR-Reichsbahn, in die wir an einem kleinen Bahnhof in Prag einstiegen“, erzählt er. Gut 250 Kilometer müssen die Züge in dunkler Nacht zunächst zurück durch DDR-Gebiet fahren. Was Rindt und die anderen Flüchtlinge vom Zug aus sehen, wirkt für sie geradezu gespenstisch: „Fast alle 250 Meter erkannten wir Uniformierte der DDR mit Hunden, die die Bahnstrecke bewachten, damit niemand auf den Zug aufspringen konnte.“

In den Waggons herrscht gedämpfte Stimmung, viele der Flüchtlinge sind völlig erschöpft. „Ich sah nach etwa zehn Stunden Fahrt einen Bahnübergang – und da standen keine Trabis und keine Wartburgs. Ich wusste, wir haben es geschafft“, erinnert sich Rindt. „Viele haben einfach nur gegrölt. Man hätte meinen können, es ist ein Zug mit Fußballfans“. Schon seit vielen Jahren lebt Rindt wieder in Ostdeutschland, in Brandenburg an der Havel. 1997 gründete er mit einem Freund die Dresdner Sinfoniker, dessen Intendant er heute ist.

In einem anderen der Sonderzüge sitzt Christian Bürger. Der gebürtige Chemnitzer war Sprecher der Botschaftsflüchtlinge. Im Dokufilm „Zug in die Freiheit“ des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) erinnert er sich genau an die Einfahrt in den Hofer Bahnhof: „Dann gingen die Zugtüren auf und dann sind wir alle rausgesprungen und haben die bayerische Erde geküsst. Man hatte in dem Moment wirklich das Bedürfnis: Jetzt will ich meine Freiheit küssen.“

Der Hofer Beamte Jürgen Stader wundert sich bis heute, wie die gesamte Organisation so reibungslos funktionieren konnte: „Es gab ja damals noch kein Internet. Wir hatten nur das Telefonbuch. Und wir konnten uns nicht groß auf das alles vorbereiten.“ Die Erlebnisse haben ihn nie wieder losgelassen.

Auch BRK-Kreisvorstand Edgar Pöpel ist diese Nacht unvergesslich. „Die Helfer des Roten Kreuzes, aber auch der anderen Organisationen, waren tagelang in Bereitschaft. Das war einfach großartig. Hof – wieder einmal das Tor zur Freiheit.“ Evi und Wolfgang Heger – sie BRK-Frau aus Bad Steben im Einsatz, er als Grenzpolizist am Bahnsteig – quartieren zwei Flüchtlingsfamilien mit kleinen Kindern in ihren Ferienwohnungen ein und verpflegen sie mehrere Wochen lang.

Viele Menschen aus den späteren Zügen bleiben in Hof. Sie werden in der Freiheitshalle und in Schulturnhallen auf Feldbetten untergebracht. Die Bundeswehr übernimmt Fahrdienste. Caritas, Diakonisches Werk – sie alle haben an diesem und den nächsten Tagen und Wochen viel zu tun. Die Bevölkerung nimmt großen Anteil und bringt Kleidung und andere Hilfsgüter vorbei. Manche nehmen Flüchtlinge mit zu sich nach Hause. Friedrich Sticht, damals als Geschäftsführer des Diakonischen Werks auch Chef der Bahnhofsmission, ruft Angehörige per Lautsprecher zusammen. „Ich erinnere mich an eine unglaublich schöne Stimmung“, sagt er heute.

In einem Kommentar der DDR-Nachrichtenagentur ADN heißt es zu den ausgereisten DDR-Flüchtlingen: „Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.“