Sie ist die erste Frau im Leben eines Mannes – und damit fangen die Probleme an, die aber nur Schriftsteller beschreiben können.
„Sterben die Menschenmütter an ihren Söhnen alle dahin?“, fragt Siegfried im „Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner Kaum hat der Junge das Licht der Welt erblickt, ist er der schönste aller kleinen Schreihälse ringsum. So sieht sie ihn im Rausch der Euphorie und teilt es mit verklärten Augen mit. Ein paar Jahre dauert es noch, dann ist der Junge stolz auf seine Mutter. Er verteidigt sie auf dem Schulhof, benützt sie für die Rangordnung der präpubertären Konkurrenzlinge: Meine ist jünger, meine ist schöner, meine ist . . . wie keine. Sie versorgt, erzieht (behördlicherseits inzwischen oft als alleinerziehende Mutter registriert) und schützt anderweitig das Kind. Wenn dem armen Jungen ein Unrecht widerfährt, erwacht die Löwin in ihr – und dann kann man sie im Lehrerzimmer erleben.
Das Niemandsland, das sich dem männlichen Spross zwischen Kindheitsparadies und Testosteronhölle auftut, fürchten die Mütter. Der Sohn wird sich nicht mehr in ihre Arme flüchten, nicht mehr an ihr ruhen und still werden, sich sicher fühlen und seinen Schmerz dort lindern, wenn es in ihm tobt. Nun tritt das Leben zwischen Mutter und Sohn und tut seine Wirkung. Der Sohn aber, ob inzwischen ein Pascha oder selbst schon ein Patriarch oder auch über Nacht zum neuen sensiblen Mann mutiert, bleibt immer das Kind, das auf fürsorglich gemeinte Fragen: Isst du genug? Bist du gesund? Ziehst du dich auch warm genug an? eher ausweichend reagiert, um der ihm von Mama, Mutti oder Mutter zugedachten Rolle zu entkommen.
Was Mütter und Söhne verbindet oder trennt, grenzt an ein Tabu
Sprechen die Herren Söhne auch mal über ihre Mütter, wenn sie unter sich sind, unter Freunden (auf der Heteroebene sind es die Kumpel), nach dem Sport, beim Bier oder erschöpft nach einem Selbstoptimierungsevent? Was käme dabei heraus? Ein Vertrauensbeweis? Selbstentblößungen von Männern zählen nicht zum gesellschaftsfähigen Durchschnitt. Übers Anekdotische kommt man da auch nicht so leicht hinaus. Und die Welt war ja noch nie so, wie sie sich die Flachpfeifen der Psychobranche hinpusseln. Allerlei Befindlichkeitsduselei brächte so ein Outing mit sich, und eine Entrüstungswoge bräche sogleich über den Familienverräter herein, stellte sich so ein missratener, undankbarer Sohn öffentlich hin und sagte etwa, meine Mutter ist verrückt (den Satz hat der schreibend hier auftretende Sohn im stillen Kämmerlein nicht nur einmal vernommen), sie geht mir auf den Keks. Die Mütter könnten dann ihrerseits aus der Deckung kommen und austeilen. Doch wozu, was hätte man davon? Gewollt und erbärmlich herbeiinszeniert ist es in den gefakten Katastrophenmüll-Talks für das Billigfernsehen der Habenichtse. Mutter – verrückt. Nein, so etwas sagt man nicht, und schreiben geht gar nicht. Wenn schon, dann sollte man es denen überlassen, die es können. Besser schiebt man solche gemeingefährlichen Aussagen den Literaten in die Schuhe. Andererseits erwarte man bitte nicht, dass man bei diesem Muttertag genannten Verlegenheits- und Verlogenheitstag samt fleuropgesteuertem Blümchenverkehr mitmachte.
Zu ihren Vätern haben die Söhne schon vieles gesagt. Doch was Mütter und Söhne verbindet oder trennt, grenzt an ein Tabu. Mal sehen, was der Büchermarkt bietet. Der fabelhafte irische Erzähler Colm Tóibín veröffentlichte einen Band mit zehn Geschichten unter dem Titel „Mütter und Söhne“. Die Stadtbibliothek Stuttgart führt ihn. 2009 auf Deutsch (bei Hanser) erschienen. Das Buch sieht gut aus, viel gelesen wurde es wohl nicht. Und so viel gibt es dann doch auch nicht her, wenn man Auskünfte dazu erwartet, was der Buchtitel verspricht. Tóibíns Mütter sind tatkräftige Witwen, erfolgreiche Sängerinnen, sie verlassen ihre Familie oder verfallen dem Alkohol. Die Söhne sind Kriminelle, Homosexuelle und pubertierende Jugendliche. Die Mütter sind die zupackenderen und lebenspraktischeren Figuren.
Die Mutter interessierte sich für alles, nur nicht für Kinder
Doch sind diese Mütter und Söhne verbunden durch Sprachlosigkeit, sie sprechen nicht miteinander. Aus ihren trostlosen Verhältnissen spricht allein die Leere. „Ihre Mutter, dachte Frances, interessierte sich für fast alles, nur nicht für Kinder, es sei denn, sie waren krank oder hatten sich in irgendeinem Fach hervorgetan, und ganz bestimmt nicht für Babys.“ Kein Vorwurf, keine Anklage. Ergebnis einer Beobachtung. Mehr findet sich bei Tóibín nicht. Das Zitat leitet über zu einem Buch des Lyrikers und Grafikers Christoph Meckel, wo es gleich am Anfang heißt: „Ich habe meine Mutter nicht geliebt.“ 1979, als die Väterbücher der Söhne, man kann sagen, eine zeitnotwendige Modeerscheinung waren, hat der 1935 geborene Meckel sein provozierendes und zugleich poetisches Buch über seinen Vater geschrieben, der selbst Schriftsteller und „ein deutsch-nationaler-s Halbnazi war, ein Mitgelaufener der Ideologie, freiwillig aktiv im Aufbau der Nazikultur“. Dieses „Suchbild“ verlangte nach einem Suchbild der Mutter. Zusammen erst, als Doppelbildnis zweier Eheleute, ergeben sie, wie der Autor im Nachklapp schreibt, „eine genaue Darstellung bürgerlich-deutscher Herkunft im 20. Jahrhundert“. Die Mutter erfuhr nie von ihrem Suchbild, 19 Jahre ruhte das Manuskript, 2002 wurde es gedruckt.
Es wird erwartet, dass man die Mutter liebt
Die Mutter, Herkunft protestantisch, ist kein übernatürliches Ungeheuer. Ungeheuer erscheint sie in ihrem kalten Bemühen, Contenance in jeder Situation zu bewahren, mit Eigenliebe als ihrer Droge. Ungeheuer auch der kalte Blick des Sohns, der seine Mutter mit lieblosen Augen anschaut. In den mit kalter Nadel radierten Porträts, die er von seiner Mutter in wiederholten Anläufen anfertigt, zittert die Atemlosigkeit vorausgegangener Kämpfe nach. Zerstreut und fern erscheint sie ihm in der Erinnerung. Die Preußin, die gebildete, kluge und schöne Person, „in protestantischem Idealismus gefestigt, der nichts verändern will, doch später hilft, die Miseren der Welt benötigt als Antrieb des Handelns, als Grund für Mitgefühl, Besinnung und Trost“.
Es wird erwartet, und es ist fast ein Befehl, dass man die Mutter liebt. Der Vater ist in Polen im Krieg, die Mutter liest oder schläft in ihrem Zimmer, das Kind sitzt am Tisch und schreibt Briefe an sie, „mit dem ersten eigenen Vorrat an Abc, gekrakelt, gemalt mit verschiedenfarbigen Stiften, und steckte sie unter der Tür ihres Zimmers durch. Ich malte Tiere ab und zeichnete Häuser, kopierte Verse und gab sie als eigene aus. Sie lagen auf ihrem Teller, in ihren Schuhen, ein Ostereispiel versteckter Papiere, um Antwort wurde gebeten, sie traf nicht ein . . . Ich ging zu ihr und frage persönlich nach. Liebst du mich? Ja, Kind, und nun geh in den Garten. Ich liebe dich. Ja, Kind, und nun iss deinen Apfel. Sie nahm die Briefe nicht ins Zimmer mit. Sie lagen tagelang im Haus herum.“
Kästners Geschichten sind auch Liebeserklärungen an seine Mutter
Der Sohn erfährt die Selbstliebe der Mutter und erlebt sie als eine wesenlose Person. „Sie wies immer häufiger alles Lebendige ab. Das Lebendigste im Haus waren ihre Kinder, das Lebendigste war zu viel, zu direkt und roh. Das Lebendigste sprengte Formen, Manier und Manieren, das Lebendigste wollte hungrig und heiter sein. Es wollte einer Mutter sicher sein, zum Spielen, Umarmen und Küssen, zum Lachen und Weinen.“
Das Gegenstück zur gläsernen Distanz der Meckel’schen Dame verkörpert die gute Ida Kästner, Mutter von Erich, dem berühmten Schriftsteller, der in seinem autobiografisch getönten Berliner Jugendroman „Emil und die Detektive“, mit dem auch kindliche Erwachsene sich wohlfühlen, den Musterknaben gibt und seiner Mutter ein Denkmal setzt. Auch Emil im Roman hat eine Mutter, die sich mit Friseurarbeiten über Wasser hält, die dem Sohn Verantwortung aufbürdet und dafür von ihrem kindlichen Helden belohnt wird. Kästners Geschichten und Gedichte für Kinder sind auch Liebeserklärungen an die Mutter. Beteuerungen größter Nähe, die er aber nur aus einigem Abstand ertrug.
Erich Kästner spielte das Muttersöhnchen
Jeden Tag, oder so oft wie möglich, schreiben sich Mutter und Sohn in den Jahren 1922 bis 1947 Briefe und Postkarten. Sie schrieb ihm, was alle Mütter schreiben oder sagen, wie er sich anziehen solle, dass er genug essen solle und dass er die Wäsche schicken solle. Sie wusch und bügelte seine Wäsche, solange sie konnte. Sie tröstete ihn, wenn er Liebeskummer hatte, sie schimpfte ihn, wenn er Ärger bekam. 1951 starb Ida Kästner in einem Sanatorium.
Er ist fast 50 und sie 75, als sie das schreibt: „Mutter und Kind sollen sich eigentlich öfter mal sehen. Weil es zwischen den beiden ein ganz inniges Verhältnis gibt.“ Kästner nimmt Rücksicht auf die Mutter, die Geliebte spielt nur die zweite Geige. Der berühmte Schriftsteller ist das Kind einer Mutter, die es ignorierte, dass ihr Sohn inzwischen erwachsen war. Es gehört eine theatralische Begabung dazu, sich coram publico in Zustände und Krankheiten zu flüchten, eine erpresserische Energie, die sich für Liebe hält, die aber nur sich selber meint. Vielleicht waren die wiederholten Selbstmorddrohungen der Ida Kästner ein Druckmittel, mit dem sich die arme Frau der ungeteilten Liebe ihres Sohnes versichern wollte. Und Erich spielte das Muttersöhnchen. Man fühlt sich klebrig dabei, wenn man sich diese Abhängigkeitskonstruktion vorstellt.
Also, was bleibt? Ein Meckel-Zitat: Das Glück zweier Menschen ist die Zeugung des Kindes. Alles Weitere ist endlos offen.