Viele Medizinprodukte sind schon vom Markt verschwunden, weil die bürokratischen Hürden der Zulassung zu hoch sind. Wie sich Baden-Württemberg dagegen wehrt.
Baden-Württemberg kämpft für Erleichterungen bei der Zulassung von Medizinprodukten nach der Medizinprodukteverordnung (MDR). Die bürokratischen Vorgaben der EU müssten gelockert werden, „sonst gehen unsere Mittelständler über die Wupper“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit Blick auf die starke Medizintechnikbranche im Südwesten.
„Der große Einsatz der Landesregierung in Brüssel und Berlin hat sich ausgezahlt“, erklärten Kretschmann und sein Europastaatssekretär Florian Hassler nun gegenüber unserer Zeitung. Vor wenigen Tagen hat die EU-Kommission einen Vorschlag aufgegriffen, für den sich auch Kretschmann starkgemacht hatte. Die Übergangsfristen zur Zertifizierung von Medizinprodukten nach der neuen MDR werden verlängert. Hersteller etwa von Herzschrittmachern oder Hüftimplantaten haben nun bis Dezember 2027 Zeit für die Zertifizierung, Produkte wie beispielsweise Beatmungsgeräte, Skalpelle oder Spritzen müssen bis Ende 2028 das neue Label haben. Bisher war der Stichtag der 26. Mai 2024.
Lebenswichtige Produkte sind verschwunden
Die neue Verordnung hat bereits zahlreiche Produkte vom Markt gefegt. Besonders für Nischenprodukte mit kleinen Herstellungszahlen wie Herzkatheter für Neugeborene ist die Zulassung zu aufwendig. Die Landesregierung hatte schon im Juni 2022 davor gewarnt, dass Hersteller lebenswichtige Medizinprodukte vom Markt nehmen. Das bedrohe die Versorgung der Patienten, aber auch die Existenz der mittelständischen Unternehmen in der Branche.
Kretschmann sagte unserer Zeitung: „Baden-Württemberg ist das Medizintechnikland Nummer eins. Unsere Unternehmen in diesem Bereich – etwa im Medizintechnik-Cluster Tuttlingen – sind echte Innovationstreiber.“ Doch Innovationen liegen bei vielen Herstellern auf Eis, weil sie mit den Zertifizierungen beschäftigt sind. Die vorgeschlagene Verlängerung wertet Kretschmann als „einen ganz wichtigen Erfolg für Medizintechnik made in BW“. So lasse sich „verhindern, dass medizinisch hochrelevante Nischenprodukte kurzfristig die Zulassung verlieren“. Doch Kretschmann und Hassler begnügen sich nicht mit dem Teilerfolg. „Die gewonnene Zeit kann und muss jetzt genutzt werden, um weitere Nachbesserungen für Nischenprodukte bei der Medizinprodukteverordnung zu erreichen“, sagte Kretschmann. Florian Hassler ergänzt: „Wir werden weiter am Ball bleiben und den Prozess eng begleiten.“
Kretschmann will zusätzliche Erleichterungen
Sie wollen erreichen, dass bei den sogenannten Benannten Stellen, die die Zulassungen erteilen, zum Beispiel der Tüv oder die Dekra, mehr Personal eingestellt wird. Für Nischenprodukte streben sie pragmatische Lösungen an, auch für Bestandsprodukte, die sich auf dem Markt bewährt haben, sollte es Erleichterungen geben. Baden-Württemberg erwartet auch, dass Ausnahmebestimmungen weit ausgelegt werden, wenn Lücken in der Versorgung drohen.
Das kommt den Wünschen der Branche in Baden-Württemberg entgegen. Die Verlängerung der Übergangsfristen bewerten die meisten als positiv, wenn die Lösung auch recht spät komme. Peter Stein von der Tübinger Firma Erbe, die Produkte für die Elektrochirurgie herstellt, sagt: „Es war höchste Zeit, dass die Verlängerung kommt. Es war unmöglich, die Zertifizierung in der vorgegebenen Zeit zu schaffen.“ Er schränkt jedoch ein „die Kapazität bei den Benannten Stellen ändert sich dadurch nicht“. Auch komme „die Verschiebung für manchen kleinen Betrieb zu spät“. Sein Kollege Marcel Glienke betont, „die Verlängerung ist zum Wohl der Patienten“. Ohne die längeren Fristen hätten weitere Produkte vom Markt genommen werden müssen.
Mangel an Fachleuten bleibt
Das sieht auch Carina Bertram so. Ihr Unternehmen VBM in Sulz am Neckar habe jedoch keinen Nutzen von den längeren Fristen. Die Audits und Reviews sind abgeschlossen, berichtete sie. Es fehlt das MDR-Zertifikat für die gesamte Produktpalette. Doch die Benannte Stelle habe derzeit keine Kapazitäten, das Zertifikat auszustellen.
Julia Steckeler, Geschäftsführerin des Verbands Medical Mountains in Tuttlingen, der die Akteure der Branche vernetzt, ist froh, dass der Vorschlag der Kommission „endlich vorliegt“. Sie hofft, dass „der Engpass bei den Benannten Stellen durch die Übergangsfristen entschärft werden kann“.
Doch es bleiben Probleme: Produkte, die aufgegeben worden seien, „kommen so nicht zurück“, sagte Steckeler. Die Kosten und die Anforderungen an die Zertifizierungen von Nischenprodukten seien weiterhin zu hoch. Ihr Wunsch: Die MDR selbst muss sofort evaluiert werden.
Das ist ganz im Sinne der Firma Erbe. Dort regt man an, die Kapazitäten bei den Benannten Stellen auf die technische Dokumentation zu verlagern und bei der Prüfung von Produkten, die für den Patienten wenig Risiko bergen, „pragmatischer vorzugehen“.
Vorreiter fühlen sich benachteiligt
Nicht so glücklich ist Nicola Osypka. Sie hat ihr Familienunternehmen in Rheinfelden komplett umgestellt, zahlreiche Produktlinien aufgegeben und Millionen in die CE-Zertifizierung nach MDR investiert. Im vergangenen Jahr hat sie drei MDR-Zertifikate bekommen. „Wir haben nun die Nase vorn gegenüber der Konkurrenz“, sagte sie. Doch der Vorteil schwinde mit der Fristverlängerung für die anderen. Osypka lobt die Bemühungen des Landes durchaus, doch sie findet, „Firmen, die sich an das Gesetz und die Fristen gehalten haben, werden bestraft“. Jetzt hofft sie auf eine Kompensation.