Die psychische Belastung durch höheres Arbeitstempo, Konkurrenzkampf und Verunsicherung steigt. Foto: dpa

"Prekäre Arbeitsverhältnisse haben die Lebensbedingungen vieler Beschäftigten objektiv verschlechtert."

Professor Holger Lengfeld, geschäftsführender Direktor des Instituts für Soziologie an der Fernuniversität in Hagen, betont: "Prekäre Arbeitsverhältnisse haben die Lebensbedingungen vieler Beschäftigten objektiv verschlechtert. Daneben gab es aber in der arbeitenden Bevölkerung in den vergangenen 20 Jahren auch psychologische Veränderungen. So haben inzwischen 60 Prozent die Sorge, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, vor 20 Jahren waren das noch 40 Prozent." Der Soziologe Lengfeld verweist dabei auf Zahlen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, einer seit Mitte der 1980er Jahre jährlich wiederholten repräsentativen Haushaltsbefragung.

Dabei hätten auch Menschen Zukunftsängste, die selbst nicht direkt von prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen sind und über Jahrzehnte hinweg vor den Risiken schwankender Konjunkturen relativ gut geschützt waren, nämlich die sogenannte Mittelschicht. Aber gerade in diese Schicht sei die Angst vor dem sozialen Abstieg im vergangenen Jahrzehnt vorgedrungen und überproportional angestiegen.

Die Gründe dafür sieht Lengfeld darin, dass die materielle Grundlage des Wohlstands in der Regel von der ausgeübten Erwerbstätigkeit abhängt. Fällt diese weg, so sei damit auch der bis dahin erarbeitete Wohlstand in Gefahr, wie etwa das Eigenheim oder der neue Wagen. "Und auch die Erkenntnis, bei Jobverlust keine Wohlstandsreserven zu haben, löst Verunsicherung aus."

Viele Beschäftigte aus dieser Schicht arbeiten etwa in Banken, Versicherungen oder im Gesundheitswesen. "In ihrem Job sind sie in den letzten Jahren mit vielfältigen Veränderungen konfrontiert gewesen", berichtet Lengfeld. Viele, die sich selbst noch vor zehn Jahren auf der sicheren Seite glaubten, bekommen inzwischen Angst davor, dass auch ihnen bald "Prekarisierungstendenzen" wie in der unteren Mittelschicht und Unterschicht bevorstehen könnten. Hinzu komme, dass viele in den 80ern ins Erwerbsleben gestartete Beschäftigte erkennen müssten, dass die automatische Wohlstandsvermehrung im Laufe des Lebens, wie sie etwa ihre Elterngeneration noch erlebt hat, nicht mehr selbstverständlich ist. "All das löst Zukunftsängste aus."

Der Organisationspsychologe Professor Michael Kastner von der Technischen Universität Dortmund sieht noch einen weiteren Grund für die Zukunftsängste: "Neben der eigentlichen Angst vor Arbeitslosigkeit haben viele Berufstätige auch Angst vor der eigenen Inkompetenz - der Angst, den schnell steigenden Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein." Viele Menschen kommen mit der gestiegenen Komplexität und Dynamik ihres beruflichen Alltags - der sogenannten Dynaxität, wie Kastner sie nennt - nicht mehr klar.

Dynaxität bezeichnet eine Mischung aus Dynamik und Komplexität: Die Vorhersagbarkeit des beruflichen Lebens werde immer geringer. Immer mehr werde dagegen von den Berufstätigen eine zeitliche, örtliche und inhaltliche Flexibilität erwartet. Gleichzeitig fehlt es an der Fähigkeit, immer komplexer werdende Sachverhalte zu durchschauen. "So fahren auch Führungskräfte beruflich nur noch auf Sicht." Vor diesem Hintergrund entstünden Krankheiten wie Depressionen und Erschöpfungssyndrome.

Dr. Elisabeth Härtig vom Kompetenzzentrum Arbeitspsychologie beim Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg kann aus ihrer Erfahrung bestätigen, dass in den letzten Jahren unter Berufstätigen psychosomatische Erkrankungen zugenommen haben, während die klassischen Berufskrankheiten wie Lärmschwerhörigkeit oder Atemwegserkrankungen zurückgegangen sind. "Heutzutage spielt die psychische Belastung durch Arbeitstempo, Konkurrenzkampf und Verunsicherung eine immer wichtigere Rolle", betont Härtig.

Um diesem Phänomen entgegenzuwirken, rät sie Arbeitgebern und Vorgesetzten, auf ein gesundes Betriebsklima zu achten. Denn gerade dann entwickelten sich weit weniger psychosomatische Störungen als in einem raueren Klima, das wiederum negative Auswirkungen auf den Krankenstand hätte. "Um das Klima zu verbessern, sind zum Beispiel Qualitäts- und Gesundheitszirkel sehr hilfreich, in denen mit Hilfe einer Bestandsaufnahme Probleme im Betrieb aufgedeckt und Lösungen besprochen werden können."

Die Gewerbeärztin Härtig sieht aber auch für den Einzelnen Möglichkeiten, Zukunftsängsten entgegenzuwirken: "Wichtig ist, dass Sie einen privaten Ausgleich finden, indem Sie Ihren Hobbys nachgehen, das Familienleben pflegen oder Entspannungsmethoden erlernen."

Auch Kastner rät zur Work-Life-Balance, um langfristig gesund und leistungsfähig zu bleiben. Dabei spielt auch Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst und seiner sozialen Umgebung eine wichtige Rolle. Gerade Heimatverbundenheit und soziale Integration wirken sich positiv aus. "Wer zum Beispiel in Süddeutschland in einer Trachtengruppe mitmacht, kann so seine Akkus wieder aufladen. Wer aber solchen sozialen Rückhalt nicht hat, für den wird es viel schwieriger , zumal er häufiger in eine Sinnkrise hineinrutschen wird."

Kastner empfiehlt diese Achtsamkeit auch Führungskräften. Denn schließlich hätten diese entscheidenden Einfluss darauf, ob Mitarbeiter Erfolgserlebnisse hätten oder sich als Versager fühlten und so Zukunftsängste entwickeln. "Vorgesetzte sollten deshalb - wenn sie Aufgaben verteilen - überlegen, wie hoch die Erfolgswahrscheinlichkeit ist. Sie sollten Mitarbeitern Erfolgserlebnisse verschaffen." Auch Thomas Götze, Karrierecoach aus Stuttgart, kennt bei seinen Klienten Zukunftsängste und weiß, dass gegen eine diffuse Angst vor dem Arbeitsplatzverlust in der Regel Transparenz und Klarheit hilft. Wie gefährdet ist mein Arbeitsplatz wirklich? Auf welche Kernkompetenzen greife ich bei der Gestaltung meiner beruflichen Zukunft zurück? Welchen Anteil an der aktuellen Entwicklung habe ich selbst, und welchen Anteil haben andere Faktoren, die ich nicht beeinflussen kann? Welche Chancen stecken für mich in einer möglichen Veränderung? "Wer sich solche Fragen stellt, für den wird klarer, wie real seine Befürchtungen sind und welche Stärken und Qualifikationen er hat, die sein Selbstbewusstsein stärken können." Wichtig sei, dass der Betreffende sich selbst weiterhin wertschätzt.

"Befürchtungen lassen sich durch Ziele bewältigen", betont Götze. "Wer berufliche Ziele und Wünsche benennen kann, der übersteht Veränderungsprozesse leichter." Deshalb empfiehlt er als Mittel gegen eine diffuse Zukunftsangst, sich ein Zielbild vorzustellen. "Fragen Sie sich, wie Ihr Leben in fünf Jahren aussehen soll. Was sind Ihre Wünsche? Sollen neue Inhalte in Ihrem Leben eine Rolle spielen? Stellen Sie sich diese Wünsche und Ziele so konkret wie möglich vor, und malen Sie sich Ihre Zukunft aus!" Wer das tut, gehe mit seinen Befürchtungen produktiv um und erlebt sich als Handelnder, anstatt gelähmt auf das drohende Unheil zu schauen.