Im Auswärtigen Amt freut man sich über die neue Bürgerbewegung „Pulse of Europe“. Foto: dpa

Wie soll die EU auf ihre Krise reagieren? Ein Weiter-so darf es auf keinen Fall geben, sagt im StZ-Interview der deutsche Spitzendiplomat Jens Plötner.

Berlin - Die EU steckt kurz vor ihrem 60. Geburtstag tief in der Krise. Die Bundesregierung befragt nun auch die Bürger, wie es denn weitergehen soll mit Europa. Jens Plötner vom Asuwärtigen Amt macht an diesem Donnerstag Station im Kammertheater Stuttgart und hat vorab schon einmal mit Thomas Maron und Christopher Ziedler von unserer Berliner Redaktion gesprochen.

Jens Plötner gehört zur Führungsebene des Auswärtigen Amtes – zuletzt als Büroleiter des Außenministers Steinmeier. Im Sommer wird er Botschafter in Athen. Foto: Auswärtiges Amt
Herr Plötner, Sie reden in Stuttgart über die Frage, welches Europa wir wollen. Müsste sie nicht eher lauten, welches Europa noch zu retten ist?
Europa ist in der Krise, keine Frage. Erst der Brexit, nun klopfen auch in Nachbarländern und bei uns Populisten an die Türen der Regierungszentralen. Eine der Gesetzmäßigkeiten in der EU lautet aber, dass sie solche Krisen immer genutzt hat, um sich neu zu erfinden.
Dieses Bündel an Krisen geht doch tiefer als jede andere zuvor. Warum ist das aus Ihrer Sicht so?
Die einfachste Antwort wäre die, dass die Europäische Union Opfer ihres eigenen Erfolges geworden ist. Wir haben seit vielen Jahrzehnten im Kern der EU keine Kriege mehr. Das hat vielleicht dazu geführt, dass wir den Frieden für selbstverständlich nehmen, was er nicht ist. Das allein reicht jedoch als Erklärung nicht. Hinzu kamen dann u.a. externe Faktoren wie die Finanzkrise, die aus den USA kam und in Europa die Währungsunion auf eine extreme Belastungsprobe gestellt hat, worunter speziell die Länder Südeuropas zu leiden hatten. Das hat die Beliebtheit der EU genausowenig gesteigert wie die Lügenkampagnen der Populisten, die erst vor dem Brexit-Votum und nun wieder vor der Wahl in Frankreich den Leuten vorgaukeln, ihren Ländern ginge es ohne die EU besser.
Aber können solche Lügenkampagnen nicht nur dann auf fruchtbaren Biden fallen, wenn sie zumindest um ein Körnchen Wahrheit herum gebaut werden? Gerade in der Krise haben die EU-Regierungen in Brüssel viele Entscheidungen gefällt, zu denen die Parlamente theoretisch hätten Nein sagen können, in der Praxis aber kaum. Braucht es nicht ein demokratischeres Europa?
Das mag bei manchen der Kritikpunkt sein, ich bin aber skeptisch, ob es der entscheidende ist: Wilders und Le Pen kämpfen doch nicht für ein demokratischeres Europa. Ihre Antwort auf die Probleme lautet doch: Weg mit Europa! Es lebe der Nationalstaat! Sie beuten also nicht unbedingt demokratietheoretische Bedenken, sondern die eher diffusen Ängste der Menschen aus.
Nur zu sagen, dass die anderen lügen, hat aber nicht gereicht, um den Brexit oder Trump zu verhindern. Da muss noch mehr sein.
Stimmt! Und deshalb kann es in Europa ja auch kein Weiter-so geben. Wir müssen jetzt darüber reden, wie es weitergehen soll. Viele sagen heute: Europa soll groß bei den großen Dingen und klein bei den kleinen sein. Die EU soll also zum Beispiel die Außengrenzen schützen, für eine vernünftig geregelte Migration sorgen, bei der Verteidigung mehr machen, und dafür sorgen, dass die EU z.B. gegenüber China mit einer Stimme spricht. Aber es muss nicht dafür sorgen, dass alle Freibäder in der EU eine Fußdesinfektionssprühanlage haben. Vielleicht haben wir in der Vergangenheit nicht gut genug verstanden, in welchen Bereichen die Menschen mehr Europa wollen und in welchen weniger. Und genau darüber reden wir ja jetzt.
Sie sagen, man müsse mit den Menschen über Europa reden, ihnen zuhören. Aber in Rom werden die Staats- und Regierungschefs unter sich ausmachen, wie es mit Europa weitergeht. Das hört sich nicht nach Zuhören an…
Ich glaube nicht, dass in Rom eine detaillierte Roadmap für die nächsten zehn Jahre beschlossen werden wird. Aber es ist schon sehr wichtig, dass die 27 Mitgliedsstaaten sich nach dem Brexit darüber Gedanken machen, in welche Richtung das Projekt „Europa“ jetzt ohne Großbritannien gehen soll. Dann dazu gibt es ja durchaus ziemlich unterschiedliche Positionen: Manche wollen die EU auf einen gemeinsamen Binnenmarkt reduzieren, andere sagen: Ganz im Gegenteil - wir müssen jetzt erst Recht volle Pulle die Integration vorantreiben. Zwischen diesen Extrempositionen wird über Modelle einer ‚differenzierten Integration‘ nachgedacht. Dabei könnten diejenigen Staaten, die in ausgewählten Bereichen weitere Integrationsschritte machen wollen, dies tun, ohne dass alle gezwungen wären, mitzumachen oder ihr Veto dagegen einzulegen.
Auch Kanzlerin Merkel ist jetzt eine Verfechterin eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten. Eine Vision, die Begeisterung wecken könnte, ist das aber auch nicht?
Ich glaube wir brauchen weniger Visionen, wir brauchen Ergebnisse. Den besten Beweis, wie wichtig Europa ist, erbringt man nicht mit neuen Hochglanzbroschüren sondern dann, wenn man den Menschen beweist, dass Europa sich erfolgreich um das kümmert, was den Menschen unter den Nägeln brennt. Ein Beispiel: Im Süden wird man auch wieder freundlicher über Europa reden, wenn dort die Jugendarbeitslosigkeit zurückgedrängt wird.
Haben die Krisen von außen – Stichworte Trump , Erdogan, Putin – das Potenzial, Europa wieder zu einen?
Das schon, aber das passiert nicht von selbst, denn manche unserer Gesprächspartner in Ost und in West setzen ja gezielt darauf, einen Keil in die EU zu treiben. Sei es, in dem man bestimmten Ländern im Osten der EU wirtschaftliche Vorteile verspricht, sei es, dass man lieber mit einzelnen Staaten als mit der EU-Kommission europäische Fragen bespricht. Daraus müssen wir die Konsequenz ziehen, in Europa noch enger zusammenzurücken, um handlungsfähig zu bleiben. Es wird nicht leicht, alle unsere europäischen Partner davon zu überzeugen, dass wir uns nicht spalten lassen dürfen.
Macht die Von-unten-Bewegung „Pulse of Europe“, die sich für Europa einsetzt, den Regierenden gerade nicht vor, wie das geht?

Ich finde das toll, bin aber auch nicht überrascht. Wir sind in eine Phase geraten, in der es politisch wieder drauf ankommt und in der Entscheidungen von enormer Tragweite anstehen. Je mehr Europagegner versuchen, die Meinungsführerschaft zu übernehmen, desto stärker wird auf Seiten der überzeugten Europäer das Gefühl, sich einmischen zu müssen. Denn wer nichts tut, der riskiert, dass Europa vor die Hunde geht. Immer mehr Menschen spüren: Hier steht viel auf dem Spiel! Dass bewegt und motiviert sie, und das ist gut so.