125 Jahre VfB Stuttgart: Viele Menschen in der Region identifizieren sich mit dem Traditionsverein. Foto: Marissa Sass-Baitis

Warum es ein Irrtum ist zu glauben, dass ein Minister für Heimat zuständig sein kann. Lokalchef Jan Sellner über Sinnfragen.

Stuttgart - Neulich in einem Ort namens Oberharmersbach (Ortenau), eine für Stuttgarter Augen und Ohren seltene Aufführung miterlebt: Auf einem Tanzboden in der Ortsmitte zeigt eine Kindervolkstanzgruppe traditionelle Tänze. Die Kinder tragen Tracht. Anschließend sagt ein Mädchen ein Gedicht in alemannischer Mundart auf. Ein alter Heimatfilm? Nein. Wirklichkeit 2018.

Genauso wirklich wie die Menschen, die ganz anders drauf sind: zum Beispiel Städter, die mit so etwas nichts anfangen können oder für die Tracht eine Art Kostümspiel ist, das man zweimal im Jahr spielt – während des Frühlingsfestes und während des in Kürze beginnenden Volksfestes auf dem Cannstatter Wasen, das diesmal ein besonderes ist, weil es sich zum 200. Mal jährt.

Wirklichkeit 2018. Dazu gehören Menschen, die aus Traditionen heraus leben und sich dafür aufgeschlossen zeigen – beispielsweise für das historische Volksfest auf dem Stuttgarter Schlossplatz. Und solche, die sich davon abkoppeln oder sich eigene Traditionen schaffen. Teil unserer Wirklichkeit sind auch die freiwilligen und erzwungenen Formen von Ortsungebundenheit: Menschen, die ihre Zelte abbrechen, um außerhalb des Vertrauten ihr Glück zu suchen. Und solche, die sich gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen und eine neue zu finden. Unüberschaubar ist das Nebeneinander von Lebensentwürfen, -wegen und Schicksalen. Doch fast alle begleitet früher oder später die Frage: Wer bin ich? Wo fühle ich mich zugehörig? Was ist Heimat?

Die Frage nach Heimat bewegt man im Herzen

Fragen nach Identität und Heimat zählen zu den Sinnfragen. Sie kehren regelmäßig wieder. In Zeiten globaler Umbrüche, die stets mit Verunsicherungen einhergehen, sind sie besonders präsent und werden öffentlich diskutiert. So elementar diese Fragen sind, so schwer sind sie zu beantworten. Der Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger nennt Identität ein „analytisches Konstrukt“. Das heißt: Vieles kommt hier zusammen: psychische, kulturelle und soziale Aspekte. Eine komplizierte Sache also. Dass sie auf der Gefühlsebene spielt, macht es nicht einfacher. Der Mensch bewegt diese Fragen buchstäblich im Herzen. Höchst individuell empfindet er das Gefühl der Zugehörigkeit oder der Entfremdung, des Wohlfühlens oder des Unwohlseins. Jede und jeder erlebt das anders. Dabei kann es auch vorkommen, dass man sich ein falsches oder verklärtes Bild von Heimat macht. Joachim Ringelnatz, der weit gereiste Dichter, hat kritisch bemerkt: „Mich deucht, es will auch nichts besagen/Ob einer seine Heimat kennt/Denn Lüge ist, was auf Befragen /Das Heimweh uns als Heimat nennt.“ In jedem Fall ist es unsinnig, das Thema in die Politik auszulagern. Ein Bundesheimatminister ist so fehl am Platze wie es ein Bundesliebesminister wäre. Dazu ist die Angelegenheit zu persönlich.

Viele VfB-Kicker sind Reingeschmeckte

Unangenehm bis gefährlich werden Fragen nach Heimat und Identität, wenn sie in abwehrender Absicht formuliert werden. Damit geht Abgrenzung gegen andere einher, im schlimmsten Fall Rassismus. Interessierte rechte Kreise ignorieren strikt, dass Heimat nie als geschlossenes System existierte, sondern vom Austausch lebt. Dafür lassen sich viele Beispiele finden. Auch das des VfB Stuttgart, der gerade sein 125-jähriges Bestehen feiert. Erfreulich groß ist die Identifikation in der Region mit dem schwäbischen Traditionsverein – ungeachtet der Tatsache, dass viele VfB-Kicker Reingeschmeckte sind. Von Akolo bis Özcan.

So verschieden die Heimatbegriffe sind, ein gemeinsames Heimatbewusstsein gibt es dann vielleicht doch. Oder den Wunsch danach: dass man „Heimat“ nicht verengt, in dem man sie für eigene Zwecke nutzt.

jan.sellner@stzn.de