Christian Jankowski, Still aus „Telemistica“, 1999 Foto: Jankowski

Was man in der Ausstellung „(Un)erwartet. Die Kunst des Zufalls“ im Kunstmuseum Stuttgart auf keinen Fall versäumen sollte? „Das ,Essbild’ von Dieter Hacker“, sagt Kuratorin Eva-Marina Froitzheim den „Stuttgarter Nachrichten“. „Wann hat man schon ­Gelegenheit, Schokolinsen in einer Ausstellung zu verspeisen.“

Stuttgart - Der Videokünstler Christian Jankowski, Professor an der Stuttgarter Kunstakademie, lässt Fernsehwahrsager in seine Zukunft blicken, der Maler Dieter Hacker lockt farbige Kugeln in immer neue Konstellationen. Beide bringen absichtsvoll den Zufall ins Kunst-Spiel. Aber kann von Zufall in der Kunst überhaupt die Rede sein?

Noch bis zum kommenden Sonntag präsentiert das Kunstmuseum Stuttgart auf den drei Stockwerken des Kubus’ am Schlossplatz die große Themenausstellung „(Un)erwartet – Die Kunst des Zufalls“. Die Werke von Jankowski und Hacker markieren, ebenso wie die Positionen von Marcel Duchamp oder von Herman de Vries, Eckpunkte in diesem Panorama. Die Kuratorin des Kunstmuseums, Eva-Marina Froitzheim, hat es erarbeitet.

„Der Zufall“, hieß es in der Ankündigung der Schau, „entzieht sich jeder Festlegung – und doch nutzt die Kunst den kalkulierten Zufall als gestaltende Kraft.“ Gilt diese Feststellung wirklich? Eva-Marina Froitzheim antwortet mit einem überzeugten „natürlich“ – und sie ergänzt: „Zufall als das zunächst Unerklärliche ist unzweifelhaft ein Phänomen, das alle Lebensbereiche betrifft.“ Sie meint: „Auf Zufall zu verzichten, käme der Vorstellung gleich, alle Vorgänge für planbar und vorhersagbar zu halten. Deswegen lässt sich im Umkehrschluss festhalten, dass Kreativität nötig ist, um zufällige Vorgänge zu provozieren und so zu überraschenden Ergebnissen zu kommen – in der Kunst wie auch den Naturwissenschaften.“

Zufall als bewusster Störfaktor

Was aber bestimmt den Zusammenhang von Zufall und der doch in der Kunst ebenso präsenten Ordnung? „Zufall“, sagt Froitzheim, „macht sich als Störung von Ordnung bemerkbar. Die systematische Arbeit mit dem Zufall setzt 1914 ein. Als einer der ersten hat Marcel Duchamp mit dem Zufall experimentiert.“

Vor allem in den sechziger und siebziger Jahren wird in der Kunst das Konzept (wieder) forciert. „Für mich“, sagt die Kunstmuseums-Kuratorin Froitzheim, „konkretisiert sich hier so etwas wie eine dritte Stilrichtung – neben den bekannten Kategorien von Figuration und Abstraktion.“ Und sie betont: „Dies betrifft übrigens nicht nur die Kunst. Zeitgleich entsteht in Stuttgart die Konkrete Poesie mit Reinhard Döhl und Eugen Gomringer, die ebenfalls mit Zufall und Ordnung operiert.“

Mit Blick auf das Begleitprogramm sagt Froitzheim: „Am vergangenen Sonntag hat das SWR-Vokalensemble in einer wunderbaren Veranstaltung Gleiches für die zeitgenössische Musik in den sechziger Jahren belegt. Hier waren die wichtigsten Protagonisten die Komponisten Karl Heinz Stockhausen und natürlich John Cage.“

Diskussion an diesem Mittwoch

Grenzüberschreitend geht es an diesem Mittwoch weiter. Bei einem Diskussionsabend, den das Kunstmuseum gemeinsam mit dem Verein Architektur Engineering Design (aed) veranstaltet, gilt der Blick Möglichkeiten des Zufalls auch in der Architektur und Gestaltung. „Welche Rolle spielen Regeln – und wo muss (und darf) man sie brechen, um Neues zu erschaffen? Was gilt für Kunst, aber nicht für die anderen Disziplinen – und was gilt für alle?“ Darüber sprechen die Kunstwissenschaftlerin Hannelore Paflik-Huber, der Kölner Design-Experte René Spitz und der an der Stuttgarter Kunstakademie lehrende Architekturprofessor Tobias Walliser. Beginn im Vortragssaal ist um 19 Uhr. Eine Anmeldung zu dieser Veranstaltung ist erforderlich – unter www.aed-stuttgart.de.

Für Eva-Marina Froitzheim schließt sich hier ein Kreis: „Wir haben mit Physikern der Universität Stuttgart das ,VersuchsLabor’ mit Experimenten zum Zufall in der Physik und Mathematik entwickelt, das beim Publikum sehr gut ankommt“, sagt sie. „Wenn sich jetzt der Zoom auf Architektur und Gestaltung richtet, haben wir alle relevanten Bereiche in verschiedenen Formaten in den Blick genommen.“

Das hat auch das Interesse der Hochschule für Medien in Stuttgart geweckt: „Die Zeitung des Studiengangs Mediapublishing“ freut sich Froitzheim, „hat anlässlich der Ausstellung die Januar-Ausgabe unter das Thema ,Schicksal vs. Zufall’ gestellt.“

Essen wird Kunst

Fünf Tage ist die „(Un)erwartet“-Schau noch im Kunstmuseum Stuttgart am Schlossplatz zu sehen. Was man in ihr nicht verpassen sollte? „Na, das ,Essbild’ von Dieter Hacker“, sagt Eva-Marina Froitzheim. „Denn wann hat man schon die Gelegenheit, Schokolinsen in einer Ausstellung zu verspeisen. Dabei geht es in dieser Arbeit weniger um das ‚Was’ der Handlung, sondern das ‚Warum’“, sagt Eva-Marina Froitzheim. Und summiert: „Einerseits hat Hacker ein Werk konzipiert, das den Betrachter aus einer passiven Haltung herauslocken wollte, gleichzeitig geht es um die Frage, wie systematisch oder zufällig sich der Einzelne bei der Auswahl und Entnahme der Schokolinse verhält.“