Sybille Thelen erklärt, warum es gut ist, dass Menschen sich für ihre Grundrechte stark machen – und welche Gruppierungen das für ihre Zwecke nutzen wollen. Foto: Leif Piechowski

Sibylle Thelen, die Direktorin der Landeszentrale für politische Bildung, spricht über die Massendemos gegen die Coronaverordnungen. Sind diese eine Gefahr für unsere Demokratie?

Stuttgart - Durch das Coronavirus ist uns aller Leben sehr eingeschränkt gewesen in den vergangenen Monaten. Seit Wochen demonstrieren auch in zahlreichen Städten viele Menschen gegen die Verordnungen. Sogenannte „Hygiene-Demos“, und „Querdenken711“ nennen sich die Veranstaltungen. In Stuttgart sind bis zu Zehntausend Protestierende zu den Demonstrationen gekommen, die eine sehr heterogene Anhängerschaft anziehen. Neben besorgten Bürger stehen dort Rechtsextremisten, Linke, Impfgegner auch Verschwörungstheoretiker Seite an Seite. Mit den Lockerungen werden die Demos kleiner, aber sie finden immer noch statt.

Woher kommt die starke Neigung zu Verschwörungstheorien während der Corona-Pandemie?

Das Coronavirus ist geradezu der Inbegriff des kollektiven Kontrollverlustes. Seit Mitte März erleben wir, dass Planbarkeit und Beherrschbarkeit unseres Alltags permanent in Frage gestellt werden. Nicht alle Menschen verarbeiten die Folgen auf dieselbe Weise. Manche neigen zu eingängigen Erklärungen, leiden unter der Unsicherheit und neigen zudem dazu, böse Mächte verantwortlich zu machen. Eine Rolle spielt auch, dass das Virus weltweit Aktualitäten bestimmt und viele Anknüpfungspunkte für verbreitete Verschwörungserzählungen bietet, etwa zur Impfgegnerschaft, Eliten- und Wissenschaftskritik, zu antisemitischen Weltbildern und Sündenbockideologien.

Warum hat so eine kleine Gruppe einen so riesigen Einfluss?

Ich denke, man muss genau hinschauen: Bei den Demonstrationen waren heterogene Gruppen unterwegs. Viele Bürgerinnen und Bürger sind auf die Straße gegangen, weil sie sich Sorgen wegen der eingeschränkten Grundrechte machen. Die Probleme beginnen dort, wo extremistische Kräfte den Protest für ihre Zwecke instrumentalisieren. Sie nutzen die vielen Anknüpfungspunkte der Verschwörungserzählungen: Indem das Volk gegen Elite oder Wissenschaft in Position gebracht wird, wird die populistische Klaviatur bespielt. Indem NS-Vergleiche eingesetzt werden, zum Beispiel von Judenstern und Maskenpflicht, lässt sich das extrem rechte Spektrum ansprechen. Indem dualistische Weltbilder verbreitet werden, werden Ressentiments und Hass geschürt.

Gefährden die Verbreiter dieser Theorien auch langfristig die Demokratie, gerade wenn man auf die Rechtspopulisten schaut?

Nicht nur für die politische Bildung ist es eine gute Nachricht, dass sich Bürger für ihre Grundrechte interessieren. Wir haben ja Problemlagen, die es wahrzunehmen gilt. Man kann aber schon fragen: was unterscheidet konstruktive Kritik von pauschaler, überschießender Kritik, von Unmut und von Behauptungen, die ins Verschwörerische abdriften. Und es geht auch darum, Stimmungen wahrzunehmen. Ein gutes Beispiel ist die Corona-bedingte Debatte über die Situation berufstätiger Eltern. Hier wurde spät reagiert, um Eltern in dieser Zeit zu unterstützen. Demokratiefeindliche Kritik hingegen muss sich kritisch hinterfragen lassen – etwa danach, um welchen Freiheitsbegriff es geht, um einen, der die eigene Freiheit absolut setzt, oder um einen, der auch die Rechte anderer respektiert und voraussetzt, dass ständige Abwägungsprozesse notwendig sind. Dies ist ein Kerngedanke der Demokratie. Politik und Gesellschaft nehmen in ihren Debatten solche Unterscheidungen immer wieder vor.

Wie sehr waren wir denn überhaupt in unseren Grundrechten eingeschränkt?

Tatsächlich ist die Einschränkung der Grundrechte im Zuge der Infektionsschutzmaßnahmen zunächst nur von Einzelnen thematisiert worden. In Politik und Öffentlichkeit standen anfangs andere Themen im Vordergrund. Es ging darum Masken zu besorgen. Bilder wie aus dem italienischen Bergamo haben unsere Wahrnehmung stark geprägt. Das Handeln hat sich von solchen Notsituationen abgeleitet. Aber inzwischen ist allen klar, wie dramatisch die Einschränkung der Grundrechte gewesen ist und noch ist. Dies haben die Debatten und die Demonstrationen bewirkt. Es liegen aber auch andere wichtige Erfahrungen vor. Corona hat zum Beispiel gezeigt, dass die Rechtsschutzgarantie auch in aktuellen Krisensituationen greift. Die Einschränkung der Versammlungsfreiheit nach Artikel 8 wurde von Gerichten gelockert. Wir haben erfahren, wie fragil und wie wenig selbstverständlich die Grundrechte sind. Das Bewusstsein für ihre Bedeutung ist gestärkt worden. Diese Erfahrung kann sich auch die politische Bildung zunutze machen.

Kann man bestimmte Gruppen, etwa die Verschwörungstheoretiker, überhaupt noch erreichen? Die melden sich wohl kaum bei Ihnen für einen Kurs an.

Es wäre ein Fehler, bestimmte Gruppen von vornherein auszuschließen oder abzuschreiben. Politische Bildung ist für alle da. Wir arbeiten ja nicht nur im klassischen Seminarstil, sondern machen auch interaktive Angebote. Wir gehen vor Ort, kooperieren mit der Offenen Jugendarbeit und der Sozialarbeit. Wir machen inklusive Angebote. Was Verschwörungserzählungen angeht: Es ist wichtig, Wirkungsmechanismen aufzuzeigen und zum kritischen Hinterfragen anzuregen.

Vor allem das Internet bietet ein Sammelsurium an Verschwörungsmythen. Fehlt es da häufig auch in der Bevölkerung noch an Fähigkeiten zur Quellenkritik?

Das ist ein riesiges Feld, auf dem viel gemacht werden muss, nicht nur für junge Leute, sondern ganz allgemein. In den neuen Bildungsplänen ist die Medienkompetenz als eine von fünf Leitperspektiven verankert. Medienkompetenz muss aber an vielen Stellen geschult werden, auch in den Elternhäusern. Auch die politische Bildung kann einen Beitrag leisten. Wir sehen bei der Nachfrage gerade nach diesen Angeboten, dass wir einen Nerv der Zeit treffen. Aktuell laufen digitale Workshops für Neuntklässler zum Thema Fake News. Sie lernen, Falschnachrichten im Internet zu entdecken oder zu enttarnen. Es geht auch darum, sich journalistisches Handwerkszeug anzueignen. Jeder muss heute sein eigener Gatekeeper sein, sagen Medienwissenschaftler.

Unter den Einschränkungen haben wir alle auf verschiedene Art und Weise gelitten. Wo haben Sie sich persönlich am meisten eingeschränkt gefühlt in ihren Grundrechten?

Die Einschränkungen wurden und werden individuell sehr unterschiedlich erlebt. Ich habe darunter gelitten, meine Mutter im Pflegeheim nicht besuchen zu können. Es ist traurig, aus Gründen des Infektionsschutzes zu einem solchen Verhalten gezwungen zu sein. Ich bin erleichtert, dass die Kontakteinschränkungen an dieser Stelle zurückgenommen worden sind. Den Mitarbeitenden der Pflegeheime verlangt die Öffnung einiges ab. Andere Menschen haben sicher unter anderen Einschränkungen stark gelitten, etwa Kinder und Eltern unter der Schließung der Kitas und Schulen oder auch die Gastronomen unter der langen Lähmung ihrer Branche.

Was lehrt uns die Corona-Krise? Was sollte auch die Politik aus der Krise lernen?

Noch sind wir ja mitten drin. Aber der Rückblick auf die bisherigen Geschehnisse macht nachdenklich. Die Krise war die Stunde der Exekutive. Krisen stärken aber auch die Sehnsucht nach dem Autoritären. Sie machen ängstlich, vielleicht sogar gehorsam. Diese Reaktionsmuster kritisch zu hinterfragen, kann in künftigen Krisensituationen hilfreich sein. Denn auch in einer Krise ist konstruktive und kritische Wachsamkeit notwendig.

Was noch?

Die Corona-Krise zeigt auch, dass Politik entschieden handeln kann. Vielleicht in einer Weise, wie das manche nicht für möglich gehalten hätten. Daran wird sich Politik künftig messen lassen müssen, auch bei großen Fragen unserer Zeit wie etwa dem Klimawandel und sozialer Gerechtigkeit.

Zur Person

Beruf: Sibylle Thelen ist die Direktorin der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB) – seit dem 1. Januar 2020 bildet sie eine Doppelspitze mit dem Direktor Lothar Frick. Von Juli 2011 an leitete sie bei der LpB die Abteilung Demokratisches Engagement sowie den Fachbereich Gedenkstättenarbeit. Zuvor arbeitete Thelen 22 Jahre bei der Stuttgarter Zeitung – von 1989 bis 2011 als Redakteurin in der Innenpolitik, in der Kultur und als Leiterin der Wochenendbeilage „Brücke zur Welt“.

Werdegang: Geboren wurde Sibylle Thelen 1962 in Stuttgart. Sie studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft, Geschichte und Kultur des Nahen Orients sowie Turkologie. Zudem besuchte sie die Deutsche Journalistenschule in München. Als Autorin verfasste sie mehrere Bücher.