Das Zirkuskind Aaliyah besucht im Jahr etwa 40 verschiedene Schulen. Im Moment macht ihre Familie Halt in Heumaden. Foto: Sägesser

Wo der Zirkus sein Zelt aufschlägt, besucht Aaliyah die Schule. Heißt: Sie kommt gut rum.

Stuttgart-Sillenbuch - Zu den Igeln fällt Aaliyah einiges ein. Immer und immer wieder schießt der kleine Arm in die Luft. Aaliyah will dran kommen, sie will der Lehrerin zeigen, was sie schon alles weiß. Zum Beispiel weiß die Siebenjährige, dass der Igel auf der Zeichnung an der Tafel im Laub schlummert und träumt. Das durfte sie gerade sagen, nachdem die Lehrerin sie aufgerufen hat. Die Lehrerin hat zuerst Alisa zu ihr gesagt, sich dann aber rasch korrigiert. Julia Brodbeck kennt das Mädchen erst seit diesem Tag. Denn Aaliyah ist nur drei Wochen da. Dann zieht ihr Zirkus weiter.

Die Kinder der 2 b in der Grundschule Riedenberg haben alle ihre Stühlchen vor zur Tafel geschoben. Frau Brodbeck hat gesagt, sie sollen sitzen wie im Kino. Der Film, den sie vorne abspult, sind ein Dutzend Blätter, die die Geschichte vom Igel-Paar erzählen. Eine Seite pro Monat. Wie die Stacheltiere aus dem Winterschlaf erwachen, wie sie Futter suchen, wie sie sich verlieben, wie sie Babys kriegen, und wie sie schließlich wieder einschlafen.

Die Kinder dürfen helfen, die Blätter aneinanderzureihen, sie in eine Ordnung zu bringen. Und Aaliyah ist mittendrin – als wäre sie eine von ihnen. Doch an der Wand des Klassenzimmers ist keines der selbstgemalten Bilder von ihr. Und auf den Fotos vom Ausflug, bei dem die Kinder Stockbrot gebacken haben, fehlt das hagere Mädchen mit den Mandelaugen. Es ist hier nur Gast.

Für Aaliyah ist die Riedenberger Grundschule eine von vielen

Aaliyah ist zum zweiten Mal an dieser Schule. Immerhin hat die Siebenjährige das Gebäude wiedererkannt. „Ach, die ist das“, hat sie zu ihrer Mutter gesagt, als sie nach den Herbstferien an der Klara-Neuburger-Straße gestanden sind. Für Aaliyah ist die Riedenberger Grundschule eine von vielen. Das Zirkuskind besucht im Jahr etwa 40 verschiedene Schulen, an den meisten bleibt sie kaum länger als eine Woche. Nur in Korb, im Winterquartier der Zirkusfamilie, ist Aaliyah für zwei Monate in einer Schule. Das ist ihre Stammschule.

Für die Kinder, die in der Regel vier Jahre ein und dieselbe Grundschule besuchen, dürfte Aaliyah ähnlich spannend sein wie Pippi Langstrumpf. Sie ist ein Mädchen, bei dem alles anders läuft, das im Zirkus lebt, in einer völlig anderen Welt. Vor allem die Mädchen haben sich am ersten Tag darum gerissen, wer mit Aaliyah Händchen haltend rüber zur Sporthalle spazieren darf.

Janine Riedesel, 27, kennt das. Sie ist Aaliyahs Mutter und selbst durch die Klassenzimmer der Region getingelt. Und immer, wenn der Zirkus Piccolo in Heumaden sein Zelt aufgeschlagen hat, war die Grundschule Riedenberg an der Reihe. Der Zirkus der Familie Riedesel gastiert hauptsächlich im Rems-Murr-Kreis und in Stuttgart. Zu seinem Konzept gehört, dass Kinder aus der Gegend Zirkusluft schnuppern dürfen: Sie bekommen einen eigenen Auftritt. Außerdem machen die Piccolo-Leute Projekte mit Schulen und anderen Einrichtungen.

Aaliyah lernt letztlich ohne einen roten Faden

In der Manege ist Aaliyah ziemlich eingespannt. Ihr gehört die Hula-Hoop-Nummer. Und die Siebenjährige ist die Assistentin des Zauberers. „Ohne sie geht da gar nichts“, sagt Monika Riedesel, ihre Großmutter und die Zirkusdirektorin. Trotzdem, eines ist klar: Bevor die kleine Artistin in ihr Kostüm schlüpft, stehen die Hausaufgaben im Rampenlicht. Darauf achtet die Mutter Janine Riedesel. Ohne Disziplin geht es nicht. „Es ist schwerer für die Kinder, in der Schule mitzukommen.“

Aaliyah lernt letztlich ohne einen roten Faden. Einerseits kommt es vor, dass sie dasselbe dreimal hört, andererseits gehen manche Dinge komplett an ihr vorbei, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Um dieses Problem etwas zu mildern, gibt es das Schultagebuch. In das tragen Aaliyahs Lehrer Botschaften für die Kollegen ein. Die einen listen kurz und knapp die Themen auf, andere hinterlassen Sätze wie: „Aaliyah beteiligt sich gut am Unterricht.“

Für die Riedenberger Lehrerin Julia Brodbeck ist Aaliyahs Stippvisite eine Premiere. Bisher saßen in ihrem Unterricht noch keine Zirkuskinder. Dass sie die Hula-Hoop-Künstlerin häufiger aufruft als andere, liegt nicht daran, dass das Mädchen so flink strecken kann. „Ich muss ja auch erfahren, wo ich ansetzen muss“, erklärt sie.

Julia Brodbeck hat die Igel-Geschichte kopiert. Die Kinder müssen sie jeweils mit dem Sitznachbar zurechtschneiden und in der richtigen Reihenfolge stapeln. Aaliyah packt ihre orangenfarbene Schere aus und macht sich mit ihrem Nebensitzer ans Werk. Der Junge ist ein Glückspilz. Er darf für drei Wochen neben Aaliyah sitzen, neben einem echten Zirkusmädchen.

Wer Aaliyahs Hula-Hoop-Nummer sehen will, hat noch bis Sonntag, 18. November, die Gelegenheit. Der Zirkus Piccolo gastiert auf der Festwiese an der Bernsteinstraße. Die Vorstellungen beginnen um 16 Uhr im beheizten Zelt.

Zirkuskinder und Schule:

Schulpflicht: Wie alle Kinder sind auch Zirkus-, Schausteller- und Binnenschifferkinder schulpflichtig. Weil der Lebenswandel ihrer Eltern den Besuch einer einzigen Schule unmöglich macht, gibt es Ausnahmeregelungen.

Regeln: Die Kinder wechseln die Klassenzimmer je nach dem Aufenthaltsort. Um Brüche zu vermeiden, gibt es ein Schultagebuch, in dem die Lehrer den Lernfortschritt dokumentieren. Außerdem gibt es in Baden-Württemberg sogenannte Bereichslehrkräfte; diese fördern die Kinder bei Bedarf, helfen bei Entscheidungen und beraten die Eltern. Für die Zeugnisse von Zirkuskindern ist die Stammschule zuständig, das ist die Schule beim Winterquartier.