Seit 14 Jahren leitet Kurt Schrimm die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Foto: factum/Weise

70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gewinnt die Suche nach NS-Verbrechern wieder an Bedeutung. Kurt Schrimm, der oberste Naziverfolger Deutschlands, über den Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit.

Ludwigsburg – - Die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen ist in die Offensive gegangen – und erhält dafür Zuspruch aus der ganzen Welt. Akten zu 30 ehemaligen Auschwitz-Wachmännern hat die Behörde mit Sitz in Ludwigsburg an deutsche Staatsanwaltschaften verschickt. Seither wird überall im Land wieder gegen mutmaßliche Naziverbrecher ermittelt. Die Zeit drängt, denn die Verdächtigen sind alt. Kurt Schrimm, der Leiter der Behörde, erklärt, warum es richtig ist, nach Greisen und Kranken zu fahnden. Und warum es falsch wäre, sich dabei von Emotionen leiten zu lassen.
Herr Schrimm, gefällt es Ihnen, als Nazijäger bezeichnet zu werden?
Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dieses Attribut je wieder loszuwerden. Mir gefällt das Wort Jäger nicht, das klingt mir zu sportlich. Der Jäger zieht aus, um Beute zu machen. Wir machen keine Beute, wir überprüfen, ob jemand gegen das Gesetz verstoßen hat.
Ihre Mitarbeiter haben Ende des vergangenen Jahres Rechercheergebnisse zu 30 Auschwitz-Wächtern an Staatsanwaltschaften verschickt. Glauben Sie, dass noch einer dieser Männer verurteilt wird?
Ich halte es für möglich, aber eben lediglich für möglich. In vielen Fällen tendiert die Chance sicher gegen null.
Was bringt es dann überhaupt, gegen Kranke und Greise zu ermitteln?
Wir führen Gesetze aus. Staatsanwaltschaften müssen mutmaßliche Mörder verfolgen, egal wie alt sie sind. Wer das kritisieren will, muss den Gesetzgeber kritisieren.
Sie suchen Nazis sicher nicht nur, weil Sie es müssen, sondern weil Sie es wollen.
Ich könnte jetzt antworten, dass ein Beamter überall seine Pflicht tut. Aber im Ernst: ich sehe einen Sinn in dieser Arbeit, ja klar. Man würde uns zu Recht vorwerfen, wenn wir es nicht versuchen würden. Solange die Möglichkeit besteht, Täter zur Verantwortung zu ziehen, sollten wir es auch versuchen.
Warum gewinnt die Suche nach NS-Verbrechern derart spät wieder an Bedeutung?
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs war eindeutig, und auf dieser Basis war es aussichtslos, Auschwitz-Wachmänner vor Gericht zu bringen. Der BGH hatte 1969 geurteilt, dass auch Auschwitz-Aufsehern eine Individualschuld nachgewiesen werden müsse, also ein konkreter Tötungsbeitrag. Das war nahezu unmöglich. Geändert hat sich diese Rechtsauffassung erst mit dem Fall John Demjanjuk.
Demjanjuk war Lageraufseher und wurde 2011 vom Münchner Landgericht wegen Beihilfe zum Mord verurteilt . . .
. . . ohne dass ihm Einzeltaten nachgewiesen wurden. Er wurde als Teil der Mordmaschinerie der Nazis verurteilt, und das eröffnete ganz neue Perspektiven.
Weil die Zentralstelle seither auf die Suche nach anderen Teilen der Maschinerie gehen kann. Hätte man das alte BGH-Urteil nicht früher infrage stellen müssen?
In einem Staat mit Gewaltenteilung ist es nicht üblich, dass die Exekutive die Rechtsprechung überprüft, sondern umgekehrt. Daran hat man sich sehr lange gehalten.
Bis unter Ihrer Leitung zwei Mitarbeiter der Zentralstelle Vorermittlungen gegen Demjanjuk begannen. Warum, wenn so wenig Aussicht auf Erfolg bestand?
Wir haben den beiden den Freiraum gegeben, die Rechtsprechung zu überprüfen, und sie gelangten zur Auffassung, dass sie falsch ist. Also haben wir entschieden: versuchen wir es doch mal. Ob das Münchner Urteil vor dem BGH Bestand gehabt hätte, wissen wir nicht, weil Demjanjuk vor der Revisionsentscheidung gestorben ist.