Ein Bild vom 29. September 2022: Aus der gesprengten Pipeline strömt Gas an die Meeresoberfläche nahe der dänischen Stadt Bornholm. Foto: /IMAGO/Danska Forsvaret

Der Anschlag auf die Ostseepipelines im September sorgt weiter für heftige Spekulationen. Aktuelle Recherchen weisen auf eine proukrainische Tätergruppe hin. Das wäre eine schwere Belastung für die Kriegsallianz gegen Russland. Eine Analyse.

Ein Terrorakt in dänischen und schwedischen Gewässern. Ein Anschlag auf kritische Infrastruktur der EU. Auf zwei Pipelines, die halb Europa mit Gas versorgen können. Noch dazu auf ein Firmenkonsortium, an dem deutsche, französische, niederländische und österreichische Unternehmen beteiligt sind. Schon diese wenigen Fakten zeigen, dass sich die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines im September 2022 keineswegs allein gegen den russischen Mehrheitseigner Gazprom richtete.

Die Sabotage hatte, ob gewollt oder ungewollt, auch Deutschland und die EU zum Ziel. Und genau das macht die jüngsten Enthüllungen zu möglichen Hintergründen des Anschlags so explosiv. Denn wenn stimmt, worauf Recherchen amerikanischer und deutscher Medien hindeuten, dann führt die heißeste Spur in die Ukraine. In jenes Land, das in seinem Abwehrkampf gegen den russischen Angriffskrieg auf die Hilfe des Westens angewiesen ist und der EU beitreten will.

Die Betonung liegt auf „Wenn stimmt . . .“

Wobei die Betonung auf dem „Wenn stimmt …“ liegen muss. Denn vieles in dem Fall ist weiterhin unklar oder spekulativ. Zumal sich die Berichte der „New York Times“, der „Zeit“ und der ARD auf anonyme Ermittlerkreise stützen. Weder der US-Geheimdienst CIA noch die Bundesanwaltschaft oder schwedische und dänische Behörden wollten die Informationen kommentieren.

Den Recherchen zufolge hat eine sechsköpfige Kommandogruppe Anfang September in Rostock eine gecharterte Jacht bestiegen, um nahe der dänischen Insel Bornholm Sprengstoff an den Nord-Stream-Pipelines anzubringen. Die Fernzündung am 26. September zerstörte drei der vier Gasröhren. Die wichtigsten Indizien: Mieter der Jacht war eine Firma in Polen, die zwei Ukrainern gehört. Die Route des Schiffes führte nachweislich in die Tatortregion. Zudem fanden die Ermittler an Bord Spuren von Sprengstoff.

Spätestens bei den Beteiligten beginnen die Spekulationen

Bei den Personen auf der Jacht soll es sich um zwei Taucher, zwei technische Assistenten, den Kapitän und eine Ärztin gehandelt haben. Doch spätestens an dieser Stelle beginnen die Spekulationen. So ist die Identität der Beteiligten ungeklärt. Sie sollen professionell gefälschte Ausweise benutzt haben. Westliche Geheimdienste sprechen den Berichten zufolge von einer „proukrainischen Gruppe“, aber auch eine Operation unter falscher Flagge sei nicht auszuschließen. Bei solchen „False flag“-Aktionen hinterlassen Täter bewusst Spuren, die in die Irre führen. Im „Fall Nord Stream“ kämen dafür vor allem russische Geheimdienste in Frage. Allerdings gibt es darauf offenbar keine Hinweise.

Auch die übrigen veröffentlichten Informationen werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Vor allem: Woher hatte die mutmaßliche Tätergruppe den Sprengstoff? Früheren Berichten zufolge gehen die Ermittler davon aus, dass Material in militärischer Qualität und mit einer Explosivkraft von 500 Kilogramm TNT zum Einsatz kam. Um eine solche Menge Sprengstoff zu verbringen, bräuchten die Taucher eine Spezialausbildung. Wäre eine nicht-staatliche Kommandogruppe dazu in der Lage? Und wer sonst könnte den Auftrag erteilt haben?

Ohne Beteiligung staatlicher Stellen ist der Anschlag kaum vorstellbar

Diese Fragen verweisen auf die wohl größte Irritation, die von den aktuellen Recherchen ausgeht. Fachleute hatten nach den Anschlägen früh darauf verwiesen, dass angesichts der Komplexität der Tat nur ein staatlicher Akteur als Verursacher der Explosionen in Frage komme. Die nun durchgestochenen Ermittlungsergebnisse weisen jedoch auf eine fast schon amateurhafte Aktion hin. So wurde die benutzte Jacht nicht ausreichend gereinigt, um Sprengstoffspuren zu entfernen.

Die Regierung in Kiew schließt eine Beteiligung eigener staatlicher Stellen aus. Michailo Podoljak, enger Vertrauter von Präsident Wolodymyr Selenskyj, schrieb bei Twitter: „Die Ukraine hat nichts mit dem Vorfall in der Ostsee zu tun und auch keine Informationen über proukrainische Sabotagegruppen.“ Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius wollte am Mittwoch ebenfalls nichts von einer heißen Spur nach Kiew wissen: „Wir müssen jetzt mal abwarten, was sich davon wirklich bestätigt“, sagte er am Rande eines Nato-Treffens in Stockholm. Pistorius betonte in dem Deutschlandfunk-Interview, dass die Wahrscheinlichkeit einer „False-flag-Aktion“ und einer proukrainischen Täterschaft „gleichermaßen hoch“ sei.

Indizien oder Beweise für eine ukrainische Beteiligung gibt es nicht

Dennoch werden sich die westlichen Verbündeten der Ukraine auf alle Szenarien einstellen müssen. Denn sollte sich die aktuelle Spur als belastbar erweisen, wäre das eine schwere Hypothek für die Kriegsallianz gegen Russland. Das gilt insbesondere dann, wenn die verdächtige Kommandogruppe doch Kontakte zum ukrainischen Geheimdienst SBU oder zum Militär gehabt haben sollte. Für eine solche Verbindung spricht, dass sich damit die Frage nach der Herkunft des Sprengstoffes und dem Training der Taucher beantworten ließe. Indizien oder gar Beweise dafür gibt es allerdings nicht.

Die „New York Times“ verweist auf eine zeitliche Nähe der Nord-Stream-Sprengung zu den ebenfalls symbolträchtigen Anschlägen auf die Tochter des kremlnahen Ideologen Alexander Dugin im August 2022 und auf die Krim-Brücke Anfang Oktober. Vor allem im letzteren Fall kam eine große Menge Sprengstoff zum Einsatz. Und auch damals bestritten offizielle ukrainische Stellen jede Beteiligung. Russland hingegen beschuldigte den SBU.

In Sachen Nord Stream zielt Moskau dagegen in eine andere Richtung. Die jüngsten Berichte seien ein Versuch, von den wahren Drahtziehern abzulenken, erklärte die russische Botschaft in den USA. Der Kreml geht von „Staatsterror“ aus, verübt von britischen oder amerikanischen Einsatzkräften.