Am 22. Juli 2011 tötet Anders Behring Breivik acht Menschen in Oslo mit einer Bombe. Danach erschießt er auf der Insel Utöya 69 Menschen. Am Donnerstag wird der Opfer der Anschläge gedacht.
Oslo/Utöya -
Am 22. Juli 2011 setzte Anders Behring Breivik auf die Insel Utöya über, auf der sich hunderte Jugendliche für das Sommercamp der Arbeiterjugend eingefunden hatten. Auf Utöya erschoss der norwegische Rechtsextremist 69 Menschen, nachdem er in Oslos Regierungsviertel acht Menschen mit einer Bombe getötet hatte. Zum Gedenken an Breiviks Opfer ertönten am Donnerstag in ganz Norwegen die Kirchenglocken. Das Massaker hat sich tief ins kollektive Gedächtnis des Landes eingegraben - weniger hingegen, dass Breiviks Ideologie dafür verantwortlich ist.
„Wir haben über den Einsatz der Rettungsdienste und das Versagen der Behörden diskutiert, über Mahnmale und Breiviks mentale Verfassung“, sagt Astrid Eide Hoem. „Aber wir haben es nicht geschafft, eine Debatte darüber zu führen, wie junge weiße Männer, die wie wir in Norwegen aufwachsen, in dieselben Schulen gehen und in denselben Vierteln leben, so extreme Ansichten entwickeln können, dass sie meinen, dafür töten zu können“.
Eine letzte SMS an die Mutter
Hoem war 16 Jahre alt, als sie auf der Insel um ihr Leben fürchtete. Sie versteckte sich an einer Klippe und schickte eine, wie sie dachte, letzte SMS an ihre Mutter: „Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt. Ruft mich nicht an. Ihr seid die besten Eltern der Welt.“ Sie konnte fliehen. In den Wochen darauf aber wusste sie nicht, zu welcher Beerdigung ihrer Freunde sie gehen sollte. Es waren zu viele.
Heute ist die 26-Jährige Vorsitzende der Jugendorganisation der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (AUF). Und sie hat eine Mission: Das Schweigen über die politischen Motive hinter der Tat zu brechen. „Wir müssen diese Art der Radikalisierung stoppen“, sagt sie.
Hoem ist mit ihrer Mission nicht die einzige Überlebende. Elin L’Estrange etwa weist auf den versuchten Terroranschlag im August 2019 auf eine Moschee am Stadtrand von Oslo hin: Erst erschoss Philip Manshaus aus rassistischen Motiven seine asiatischstämmige Stiefschwester, dann eröffnete er in der Moschee das Feuer, konnte aber von den Gläubigen überwältigt werden.
Attentäter ahmten Breivik nach
„Dass es Menschen gibt, die immer noch Breiviks Ideen teilen, dass wir einen weiteren von Breivik inspirierten Terroranschlag in Norwegen hatten, zeigt, dass wir es versäumt haben, den politischen Aspekt des Massakers herauszuarbeiten“, sagt L’Estrange.
Auch andere Attentäter in Neuseeland, den USA und vielen anderen Ländern seien durch Breivik inspiriert worden, sagt sie. „Das ist eine internationale Bewegung, die wir ernst nehmen müssen, sie ist gefährlich“.
Bei einer Gedenkveranstaltung vor Überlebenden am Donnerstag betonte Norwegens Regierungschefin Erna Solberg: „Wir dürfen den Hass nicht unbeantwortet lassen.“ Die Menschen rief sie auf, ein inneres „Bollwerk gegen Intoleranz und Hassrede“ aufzubauen.
Ziel von Breiviks Angriffen sowohl auf Utöya wie in Oslo war die sozialdemokratische Arbeiterpartei, deren Vorsitzender Jens Stoltenberg damals an der Spitze einer linksgerichteten Koalition stand. Breivik machte sie für den von ihm so verabscheuten Multikulturalismus verantwortlich.
Kampf um Meinungshoheit in Norwegen
Nach dem Massaker nahm die Debatte eine überraschende Wendung: Versuche von Überlebenden, vor den ideologischen Wurzeln der populistischen Rechten und ihrer manchmal aufhetzenden Rhetorik gegen Einwanderer zu warnen, gingen nach hinten los. Nun wurden sie beschuldigt, die Tragödie auszunutzen - und aufgefordert, nicht an der „Meinungsfreiheit“ zu rühren.
„Es war AUF, die nach dem 22. Juli mundtot gemacht wurde“, schrieb der Journalist und ehemalige linksgerichtete Parlamentarier Snorre Valen, der Autor des Buches „Utöyakortet“ („Die Utöya-Karte“). „In der politischen Szene haben die Trolle einen Platz an der Sonne bekommen, während die AUF drinnen bleiben musste“, schrieb er in einem Gastkommentar.
Die AUF will das nicht mehr hinnehmen. Auf ihr Drängen hat die Arbeiterpartei zugesagt, mit einer Kommission die Mechanismen einer Radikalisierung zu untersuchen - sollte sie bei den Parlamentswahlen am 13. September die Macht von der regierenden Mitte-Rechts-Koalition zurückzuerobern. Nach den derzeitigen Meinungsumfragen könnte dies durchaus geschehen.