Die gesetzlichen Kassen zahlen zwischen 2500 und 3500 für eine feste Zahnspange, je nach Art und Dauer der Behandlung. Foto: Fotolia/© StudioLaMagica

Zahnspangen sind bei Jugendlichen fast schon zur Pflicht geworden: Im Schnitt wird jeder Zweite kieferorthopädisch behandelt. Doch muss das sein? Ursula Hirschfelder, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie, erklärt, wann Eltern sich bei ihren Kindern für eine Zahnspange entscheiden sollten.

Stuttgart - Frau Hirschfelder, als Eltern hat man den Eindruck, dass inzwischen fast jedem Kind eine Zahnspange verpasst wird. Stecken dahinter wirklich nur medizinisch notwendige Maßnahmen oder hat dies meist nur kosmetische Gründe?
Dass heute mehr Kinder eine Zahnspange tragen als früher, wird oft angenommen. Die Daten der kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung liefern dafür aber keinerlei Belege. Demnach ist die Zahl der über die Krankenkassen abgerechneten Behandlungsfälle von 1995 bis 2014 weitgehend konstant geblieben. Auch das Abrechnungsvolumen für die Kieferorthopädie hat sich seit 1995 kaum verändert. Außerdem: Betrachtet man die Ausgaben der Krankenkassen für alle zahnmedizinischen Behandlungen, entfällt auf die Kieferorthopädie nur ein verschwindend geringer Anteil. 2013 lag er unter acht Prozent. Die Statistiken sprechen also nicht dafür, dass mehr Kinder eine Spange haben und dass sich Kieferorthopäden eine goldene Nase verdienen wollen. Die Eltern sind heute aber aufgeklärter und kritischer. Deshalb wird über kieferorthopädische Behandlungen mehr gesprochen.
Manchmal tragen sogar schon Vorschulkinder eine Zahnspange. Kann das sinnvoll sein?
Insgesamt finden kieferorthopädische Behandlungen im Milchgebiss zwar nur selten statt. Es gibt aber ausgeprägte Fehlstellungen, in denen sie angezeigt sind, weil Wachstumshemmungen drohen und die Prognose schlecht ist. Das kann etwa bei einer Milchgebiss-Progenie, also einem umgekehrten Überbiss der Schneidezähne, der Fall sein.
Oft erstreckt sich die Behandlung ja über Jahre. Könnte man sie auch raffen?
„Raffen“ ist keineswegs in jedem Fall sinnvoll, dennoch könnte einiges „gestrafft“ werden. Kieferorthopäden sollten einen detaillierten Behandlungsplan mitsamt einer zeitlichen Einstufung erstellen und die Patienten samt Eltern darüber aufklären. Sie müssen wissen, was auf sie zukommt. Wir sind auf die Mitarbeit der Patienten angewiesen. Wenn eine herausnehmbare Zahnspange nicht oft genug getragen wird, kann das nämlich die Behandlung verlängern. In so einem Fall muss man nochmals mit den Eltern sprechen und eventuell den Behandlungsplan ändern. Überhaupt wäre es bei längeren Behandlungen wichtig, den Plan zwischendurch zu aktualisieren.
Die Krankenkassen zahlen nur in dringlicheren Fällen. Manchmal empfehlen Kieferorthopäden aber trotzdem eine Spange. Das kann für Eltern irritierend sein. Was raten Sie?
Für die Eltern ist das in der Tat schwierig. Wir haben in Deutschland einen hohen Sozialstandard, die Krankenkassen zahlen vieles. Die Raster bei der Einstufung, von der die Kostenübernahme abhängt, sind aber grob. Viele Dinge, die nötig wären, fallen raus. Nicht unbedingt Notwendiges wird dazugenommen. Es kann also Fälle geben, in denen die Kassen nicht zahlen, obwohl die Behandlung sinnvoll wäre. Denkbar ist das zum Beispiel bei einem offenen Biss, dessen Ausmaß zu gering ist, um die Kriterien zu erfüllen. Ich kläre die Eltern in so einem Fall genau auf. Außerdem gibt es in der Kieferorthopädie ein weites Spektrum an zusätzlichen Leistungen, angefangen von zusätzlicher Kariesprophylaxe bis hin zu Keramikbrackets.
Drohen gesundheitliche Gefahren, wenn man bei Fehlstellungen nichts unternimmt?
Der Schaden für die Gesundheit kann auf lange Zeit betrachtet durchaus relevant sein. Die Verdauung beginnt schließlich in der Mundhöhle und hängt damit indirekt von der Funktionstüchtigkeit des Kauorgans ab. Die Mundgesundheit hat großen Einfluss auf die Gesamtgesundheit.
Stimmt es, dass Rückenprobleme mit Kieferfehlstellungen zusammenhängen können?
Das kann schon sein. Das Kiefergelenk ist ein sehr komplexes Organ, da sind viele Zusammenhänge denkbar. Ansonsten sollte man aber die Kirche im Dorf lassen. Manchmal sind solche Aussagen auch Verlegenheitsantworten von Orthopäden, die nicht mehr weiter wissen.
Kritiker sagen, dass der medizinische Nutzen vieler kieferorthopädischer Behandlungen wissenschaftlich nicht ausreichend belegt sei.
Die Kritiker fordern Studien mit Vergleichsgruppen. Teilnehmer mit genau gleichen Voraussetzungen zu finden, ist aber sehr schwierig. Hinzu kommen ethische Bedenken, weil man einer Gruppe die Behandlung vorenthalten müsste. Solche Studien sind in der Kieferorthopädie kaum machbar. Die Kritiker haben es auch nicht geschafft, die Sache anzupacken und besser zu machen. Das macht sie unglaubwürdig. In der kieferorthopädischen Fachliteratur gibt es hervorragende wissenschaftliche Veröffentlichungen, die sich für die tägliche Praxis nutzen lassen. Außerdem tut sich in der Kieferorthopädie in dieser Hinsicht gerade einiges: Unsere Gesellschaft beteiligt sich am Netzwerk der zahnärztlichen Versorgungsforschung, um den Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen für die Mundgesundheit noch besser belegen zu können.
Haben Sie oft Patienten, denen es nur um die Ästhetik geht?
Oft nicht, aber manchmal kommen Mädchen in der Pubertät, die etwas für ihr Aussehen tun wollen. Rein ästhetische kieferorthopädische Behandlungen dürfen aber nicht zu Lasten der Krankenkassen gehen, die muss man selber zahlen. Für uns muss der medizinische Nutzen an erster Stelle stehen.

Zur Person:

Ursula Hirschfelder, Jahrgang 1950, ist Direktorin der Abteilung Kieferorthopädie und des Lippen-Kiefer-Gaumenspalten-Zentrums der Uniklinik Erlangen. Seit September 2013 ist Hirschfelder zudem Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO).