Foto: Andreas Rosar Fotoagentur-Stuttg

Erstmals seit 40 Jahren hat sich Stuttgart bei Handelsflächen zu einem Mietermarkt entwickelt. Laut des Maklers JLL sind derzeit 22 von 161 Läden in den Toplagen verfügbar.

Stuttgart - Wohin geht die Reise in der Innenstadt? Wird der Handel bald nur noch eine Nebenrolle spielen? Wie werden sich die Mieten entwickeln? Antworten darauf sind Gold wert. Für Einzelhändler sowieso. Aber auch für Immobilienmakler, die freilich auch in einem Wettbewerb stehen. So kommt es, dass der Makler JonesLangLassalle (JLL) versucht, die Zukunft verlässlich zu deuten. Grundlage dafür ist die Gegenwart. Im Stuttgarter Einzelhandelsvermietungsmarkt liegt der Flächenumsatz im dritten Quartal (14 800 Quadratmeter) 56 Prozent über dem Vorjahreswert.

Für die Innenstadt und die 1a-Lagen heißt das laut Philipp Nothdurft von JLL-Stuttgart: „Seit 40 Jahren hat sich Stuttgart von einem Vermieter- zu einem Mietermarkt entwickelt.“ Diese Zäsur bedeutet: Die Mieterwechsel steigen, die Nachfrage ebbt ab, Eigentümer sitzen nicht mehr automatisch am längeren Hebel. „Früher standen die Nutzer Schlange und der Eigentümer konnte sich den Wunschmieter aussuchen“, sagt Dirk Wichner von JLL-Deutschland, das sei heute anders. Mittelfristig rechnet der Makler in den Toplagen wie der Königstraße sogar mit Leerstand.

22 Läden in 1a-Lage verfügbar

Tatsächlich gibt es diesen Leerstand in der 1a-Lage jetzt schon. Allerdings sei er verschleiert. „Die Verfügbarkeitsquote schafft die nötige Transparenz“, sagt Dirk Wichner von JLL-Deutschland und beziffert sie folgendermaßen: „22 von 161 Ladenflächen in dieser ausgewählten Lage sind mittelfristig verfügbar.“ Das entspricht 12 Prozent und ist im Bundesvergleich die dritthöchste Quote nach Köln und Berlin. Verfügbarkeit kann verschiedene Gründe haben: Sei es, weil der Mietvertrag binnen eineinhalb Jahren ausläuft. Oder weil der Mieter einen Nachmieter sucht. Diese wahre Leerstandsquote zeige, wie schwer es inzwischen geworden ist, auf dem teuren Pflaster Königstraße (seit vier Jahren 270 Euro pro Quadratmeter Spitzenmiete) Handel zu treiben. „Während der Umsatz pro Jahr in den vergangenen fünf Jahren etwa gleich geblieben ist, sind Mieten jährlich um 1,5 Prozent gestiegen.“

Aus dieser Entwicklung leiten die Makler zwei Folgen ab: „Erstens sehen wir viele Wanderungseffekte von der 1a- in b-Lagen, zweitens teilt sich die Königstraße inzwischen in drei Abschnitte. Die absolute Top-Lage verkürzt sich auf einen Kern zwischen Schlossplatz und Stiftstraße“, sagt Philipp Nothdurft. Dieser kurze Bereich sei das Herzstück des „Stuttgarter Premium-Laufs“. Angefangen vom Schlossplatz bis über die Stiftstraße und Sporerstraße hin zu Breuninger. Das Makler-Urteil über die untere Königstraße ist angesichts des geschwundenen Sicherheitsgefühl der Passanten nicht zitierfähig, die obere Königstraße nennen sie „konsumig“. Nothdurft: „An den Enden der Königstraße sind die Verhältnisse nicht mehr so fest betoniert, wie sie es jahrzehntelang waren.“

Gewinner dieser Entwicklung sei vor allem die Calwer Straße, deren Passage bald zur Großbaustelle wird. „Die Calwer Straße ist bei der Mietentwicklung aktuell über dem Berg“, sagt Wichner, sie habe den notwendigen Wandel von Bedarfs- zu Erlebniskauf mit „Gastronomie, Blumen und Fluxus“ geschafft. Anderen Straßen, wie etwa die Hirsch- oder Eberhardstraße, fehle „diese Story“. Sie lägen „irgendwo im Nirwana“.

Für Eigentümer beginnen neue Zeiten

Auf der Basis dieser Marktentwicklung prognostiziert Dirk Wichner der Innenstadt als Marktplatz dennoch eine gute Zukunft – vor allem für Mieter. Für viele Eigentümer begönne nun ein schwieriger Prozess des Umdenkens, so Nothdurft, da sie in den vergangenen zehn Jahren davon ausgehen konnten, dass die Mieten weiter steigen werden. Die goldenen Zeiten für Vermieter scheinen vorbei zu sein. „Zwar sind die Mieten vorerst stabil, doch sehen wir aufgrund der besseren Verhandlungsposition der Nutzer deutlich, dass die Eigentümer nun verstärkt Incentives wie Umbauzuschüsse oder mietfreie Zeiten anbieten müssen, um den Vertrag abzuschließen“, sagt Nothdurft.

Auch das Erscheinungsbild des Handels werde sich verändern. Weil es für Händler immer schwerer werde, auch in den Obergeschossen Geschäfte zu machen, rechnen die Experten damit, dass Ladenflächen dort zunehmend verschwinden und etwa durch Büroflächen ersetzt werden. Wichner: „Heute fokussieren sich immer mehr Händler auf ein qualitatives Kauferlebnis und müssen nicht mehr alle Waren auf der Fläche präsentieren. Die Folge: Statt vier Etagen reichen heute auch zwei.“ Seine Empfehlung an die Stadt und ihre Händler lautet: „Räume mit Identität sowie Rundläufe für die Passanten schaffen und Autos raus.“