Oper für die Ohren: An diesem Sonntag wird Mark Andres „Wunderzaichen“ in Stuttgart uraufgeführt. Foto: Leserfotograf remstal-knipser

Nach drei Jahren Planungszeit hat die erste Oper des stillen Franzosen Mark Andre in der Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito Premiere. Im Zentrum steht der mittelalterliche Humanist Johannes Reuchlin. Für die Oper Stuttgart ist das komplexe Werk ein Kraftakt.

Nach drei Jahren Planungszeit hat die erste Oper des stillen  Franzosen Mark Andre  in der Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito Premiere. Im Zentrum steht der mittelalterliche Humanist Johannes Reuchlin. Für die Oper Stuttgart ist das komplexe Werk  ein Kraftakt.

Stuttgart - Mit dem Tragen der Partitur hat man seine liebe Not: Riesig groß sind die vier schweren Hefte. Und dennoch: „Diese Noten“, sagt Sylvain Cambreling, der Generalmusikdirektor,„sind viel zu klein, die kann ich beim Dirigieren gar nicht sehen.“ Deshalb hat er – auch daran erkennt man den Fachmann für komplizierte neue Kompositionen – die 73 übereinanderliegenden Systeme seiner Dirigierpartitur, die prall gefüllt sind mit winzigen Noten und Spielanweisungen, übermalt mit großen, bunten Zahlen und Zeichen. Halt, wollen sie sagen, hier ist ein Taktwechsel! Oder: Vorsicht, hier droht ein Problem mit der Balance – zwischen Sprache und Gesang, Instrumentalem und Vokalem, akustischen und elektronischen Klängen.

„Wunderzaichen“ heißt das Stück, das an diesem Sonntag in der Oper Stuttgart zur Uraufführung kommt. Mark Andre ist der Komponist: ein Franzose, der, weil er in Deutschland lebt, den Akzent auf dem Schlussbuchstaben seines Nachnamens weggelassen hat. So ist das Anderssein in seinen Namen gehuscht, und irgendwie passt das auf den scheuen, immer etwas traurig durch seine Brille blickenden 48-Jährigen, der so grundfreundlich ist, dass er sogar seinen Spielanweisungen in der Partitur immer wieder ein „bitte“ anfügt. „Dämpfer weg, bitte“, liest man zum Beispiel, oder (für Bläser) „Im Instrument flüstern, bitte, keine Griffe“.

Das dürfte die Musiker ein bisschen darüber hinweg trösten, dass ihr Dasein über lange Strecken hinweg erst im Zusammenwirken mit den anderen Sinn erhält. Der einzelne Instrumentalist muss viele Töne lang aushalten, kleine Tonfiguren oft wiederholen. Hinzu kommen Geräusche – vor allem von den drei Schlagzeugern im Orchestergraben und drei weiteren Schlagzeugern, die ihr Instrumentarium in Logen aufgebaut haben. Styropor kommt ebenso zum Einsatz wie Teelöffel. Manche Momente verraten deutlich, dass Andre (auch) ein Schüler Helmut Lachenmanns gewesen ist. Und doch: „Nein“, wehrt Sylvain Cambreling ab, „Lachenmann hat sein klangliches Vokabular immer stärker erweitert – Mark Andre dagegen will mit immer weniger Material auskommen.“ Andres Reduktion, sagt der Dirigent, verstehe er als eine neue Art von Utopie, und sie habe unbedingt auch mit der Transzendenz zu tun, die dieser Komponist immer suche. Und mit so etwas wie „Klangtelepathie“, also mit einer Kommunikation, die sich nicht der Sprache, sondern der Musik als Mittel bedient.

Wer Mark Andre einmal begegnet ist, der weiß, dass dies ein ureigenes Thema des Komponisten ist. Andre ist keiner, der mit Worten rasch auf den Punkt kommt. Seine Klänge hingegen sind ungemein fein und reich. Dass er fast immer live Gespieltes mit Elektronischem ergänzt, wirkt wie eine notwendige Konsequenz. Auch die Tatsache, dass Vieles, was mühevoll auf Band gebracht wurde, am Ende kaum zu hören ist, aber unterschwellig mitklingt, passt ins Bild.

So gibt es in „Wunderzaichen“ einen richtig lauten Akzent, mit dem die Lautsprecher im Raum der Sopranistin Claudia Barainsky den wunderschönen hohen Ton abschneiden: Das Schließen der Tür in der Jerusalemer Grabeskirche, erklärt der Dramaturg Patrick Hahn, sei die Basis dieses Klangs. Und überhaupt ist Vieles von den vielen Geräuschen eingeflossen, die Hahn, Andre und der Toningenieur des SWR-Experimentalstudios, Joachim Haas, auf einer gemeinsamen Reise nach Israel aufgezeichnet haben. Regentropfen in einer Pfütze, eine Plastiktüte im Gebüsch, die im Wind flattert: „Das sind“, sagt Hahn, „Klänge, die man auch hier bei uns hätte aufnehmen können. Aber auf dieser Reise hat sich eigentlich das ganze Stück ereignet.“

Das ganze Stück. Worum geht es eigentlich in „Wunderzaichen“? „Um das Verschwinden, um die Überwindung des Todes und um Identität“, sagt der Dramaturg, der auch am Libretto mitgearbeitet hat. „Um den Gegensatz zwischen Mystischem und Pragmatischem“, sagt der Dirigent – und meint mit dem Mystischen auch jene vielen Momente zwischen Klang und Nicht-Klang, Konkretem und Surrealem, Momente mit Atemgeräuschen, geflüsterten Worten.

Drinnen und draußen, Metaphysisches und Technisches: Das sind für Patrick Hahn die Pole, zwischen den sich „Wunderzaichen“ aufspannt. „Woher kommt der Klang und wohin geht er?“: Das ist für Sylvain Cambreling die Frage, um die das Stück vor allem kreist. Eine musikalische Frage – klar, „aber wenn man nur den Text liest, versteht man nichts. man sollte das nicht lesen.“

Eine durchgehende Handlung gibt es tatsächlich nicht. Protagonist der vier „Situationen“ ist der mittelalterliche Humanist Johannes Reuchlin, der die hebräische Sprache studierte und in einer von Judenhass geprägten Zeit Toleranz gegenüber Andersdenkenden einforderte. „Wunderzaichen“ transportiert Reuchlin, gespielt und gesprochen von dem Schauspieler André Jung als der einzigen konkreten Figur der Oper, ins zeitgenössische Tel Aviv. Reuchlin will einreisen, wird verhört, er stirbt, und doch bleibt irgendetwas von ihm bestehen, feiert Auferstehung. Jossi Wieler und Sergio Morabito ist das Stück gewidmet, sie inszenieren es in einem Bühnenbild, dem man ansieht, dass Anna Viebrock es erdachte.

Auch der Bühnenort liegt zwischen den Welten: ein Ort wie geschaffen für einen Komponisten, über den sein Lehrer einen wunderschönen, sprechenden Satz formuliert hat. „Schlafwandler“, so Helmut Lachenmann über Mark Andre, „soll man nicht wecken.“

Premiere am Sonntag, 2. März, 19 Uhr. Weitere Vorstellungen am 7., 16. , 22. und 25. März. Karten: 07 11 / 20 20 90.