Jorge Ribalta, Renaissance. Scenes de la reconversion industrielle au bassin minier du Nord-Pas de Calais (Szenen des industriellen Wandels im Bergbaurevier von Nord-Pas de Calais), 2014 Foto: WKV

Mit der ersten Einzelausstellung des spanischen Fotokünstlers und Theoretikers Jorge Ribalta in Deutschland rückt der Württembergische Kunstverein die allzu leicht unterschätzte Kulturtechnik mit Nachdruck ins Bewusstsein.

Stuttgart - Wie sehr die Erfindung der Fotografie geholfen hat, Vergangenes außer in Gestalt konkreter Gegenstände oder in Form schriftlicher Überlieferung auch in Bildern lebendig zu erhalten, ist ebenso selbstverständlich, wie es allzu leicht vergessen wird.

Eine einfache Sache ist die Dokumentation nationalen Kulturerbes mit fotografischen Mitteln darum noch lange nicht. Grundsätzlich setzt sich der 1963 in Barcelona geborene Jorge Ribalta mit den Gegenständen seines Interesses in umfangreichen Serien kleinformatiger Schwarzweißaufnahmen in analoger Technik auseinander.

Im Vierecksaal des Kunstvereins erwartet den Besucher eine Auswahl von sechs solcher Serien von bis zu zweihundert Abzügen. Um diesen zum Teil wandfüllenden über- und nebeneinander angeordneten Bilderreihen näher zu kommen, betritt man eine Art Festung aus hohen Stellwänden. Dahinter verbergen sich weitere voneinander getrennte Räume, wo die einzelnen Serien gerahmt vor neutralem Weiß hängen. Freilich wirkt die schiere Menge an Fotos in Verbindung mit dem labyrinthischen Charakter der Anlage fast erdrückend, trifft aber gerade so ins Schwarze kollektiver, inszenierter und national geprägter Erinnerungsarbeit.

Die Stuttgarter Schau wurde von einer Ausstellung im spanischen Caceres übernommen

Die Ausstellung in Stuttgart wurde von einer vom Centro Guerrero in Granada und der Fundacion Helga de Alvear in Caceres koproduzierten Einzelschau übernommen. Allerdings präsentieren Iris Dressler und Hans D. Christ als Kuratoren jetzt über die in Spanien gezeigten drei Serien ‚Unbezähmter Laokoon’, ‚Scrampling’ und ‚Imperium (oder K.D.)’ hinaus noch drei weitere, nämlich „Renaissance. Szenen des industriellen Wandels im Bergbaurevier von Nord-Pas-de-Calais“ „Petit Grand Tour“ und „Carnac, 1. August 2008“.

Der Titel „Unbezähmter Laokoon“ entstammt einem Gedicht von Federico Garcia Lorca und bezieht sich auf sein Denkmal an der Plaza de Santa Ana in Madrid. Wie auch „Scrampling“ und „Imperium oder K.D.“ widmet sich die umfangreiche Serie dezidiert Inbegriffen der spanischen Kultur wie dem Flamenco, der Alhambra und Karl V., dem ersten König von Spanien und Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Bemerkenswert ist, dass alle drei Serien „auf die transnationale Vermischung kultureller Identitäten verweisen.“ (Zeitung zur Ausstellung)

In seinen Fotos blickt Ribaltas in Bodegas und Flameco-Vereine

Der Flamenco wurzelt in der Musik andalusischer Roma-Stämme, die einst vom flandrischen König protegiert wurden. Die Alhambra zeugt von der muslimisch-maurischen Herrschaft in Granada, die erst 1492 endete. Der in Gent geborene Habsburger Karl V. herrschte als Römischer Kaiser bekanntlich über ein Reich, in dem „die Sonne nicht unterging“, weil auch die ersten amerikanischen Kolonien schon dazu gehörten.

Zu den wichtigsten Prinzipien der fotografischen Recherchen Jorge Ribaltas gehört der Blick hinter die Kulissen, in enge Gassen, in Bodegas, Flamenco-Vereine, Hinterhöfe und Tanzschulen. Aber auch Bewässerungskanäle, Bauarbeiten, Marketing, das Archiv der Alhambra, die Security und die Beschäftigten selbst sind von Belang.

Die Serie „Imperium (oder K.D.)“ begleitet Karl V. an Orte, die am Ende seines Lebens für ihn Bedeutung hatten, in die Umgebung des Klosters Yuste oder ins Innere seines Palasts. Ein fiktiv inszenierter Tagtraum vergegenwärtigt wichtige Stationen seines Lebens, die Schlacht bei Pavia, die Hochzeitsreise, die Krönung zum Kaiser 1530 in Bologna. Wieder eine Sequenz gilt Produkten, die mit Karl V. beworben werden: Paprika aus der Extremadura, Bier aus Belgien oder Schokolade aus Mexiko. Zuletzt führt die in drei Akte gegliederte Serie nach Brüssel, wo der Kaiser 1555 seine Abdankungsrede hielt und wo heute das Ommegang-Fest mit seiner Prozession Touristenschwärme anzieht.

Bilder vom industriellen Strukturwandel in Nordfrankreich

Einen historischen Längsschnitt legt auch die Serie „Renaissance“. Es geht dabei um den Strukturwandel in Nordfrankreich von der Schwerindustrie hin zu einer von Kultur- und Freizeitindustrie geprägten Region, die sich mit dem Titel eines Unesco-Weltkulturerbes schmückt und davon lebt. Stillgelegte Zechen wurden zu Industriedenkmälern umgewidmet und erhielten musealen Charakter. Die Perspektive reicht aber zurück bis zur Zeitspanne „von Karl V. bis Louis IV.“, schweift ab zu einer „kleine(n) Geschichte der Fotografie“ und konfrontiert einen dann mit dem Elend der „Borinage“, wo Van Gogh sich einst als Prediger versuchte. Den schlimmen Verhältnissen von damals stellt Ribalta die ebenfalls nicht rosigen Bedingungen gegenwärtig prekär Beschäftigter gegenüber.

Die früher entstandenen Serien „Petit Grand Tour“ (2007) und „Carnac“ (2008) gelten der touristischen Vermarktung antiker und prähistorischer Altertümer. Jene führen uns ins Museu Nacional Archeologic de Tarragona, wo man etwa mit dem „“Bildnis eines Unbekannten“ aus der Mitte des 1. Jahrhunderts nach Chr. konfrontiert wird, der sein Gesicht restlos eingebüßt hat.

Prähistorisch-megalithischem Kulturerbe begegnet man in Carnac in Gestalt mehr oder minder verwitterter Menhire. Durchweg aber „steht nicht das einzelne, in sich abgeschlossene Bild im Vordergrund, sondern das, was sich zwischen den Bildern ereignet.“ (Einführungstext). Sinn und Zusammenhang stellen sich erst her, wenn man die einzelnen Zeitpunkte und Sachverhalte, die jedes Bild für sich dokumentiert, gedanklich in Verbindung bringt.

www.wkv-stuttgart.de