belit sağ, Ayhan and me / Ayhan ve ben (Ayhan und ich) Foto: Belit Sag

2016 kurz vor der Eröffnung in Istanbul abgesagt, ist das von Katia Krupennikova erarbeitete Ausstellungsprojekt „Post Peace“ nun in Stuttgart zu sehen. Ein überzeugener Auftritt, finden die „Stuttgarter Nachrichten“.

Stuttgart - Ein Mann spielt mit einem kleinen weißen Hund. Mehr aber ist es eine Demonstration von Kontrolle und Macht. Wer kontrollieren will, muss Macht ausüben. Ayhan Çarkın sendet diese Botschaft. In den 1990er Jahren ist er im inoffiziellen paramilitärischen Flügel der türkischen Sicherheitskräfte an der Tötung von Kurden beteiligt. Çarkın bestätigt seine Aktionen im türkischen Fernsehen – in eigenen Youtube-Videos zeigt er sich später im Rollenbild des Privatiers. Sein Ton aber droht ständig zu kippen, immer bleibt die Aggression spürbar.

Wie treibt man das Böse aus?

Kann man die Çarkıns überwinden, vergessen machen? Kann man ihre Unverletzlichkeit im Schutz eines mit Europa spielenden Staates brechen? Die Künstlerin Belit Sag versucht es in ihrer Videoarbeit „Ayhan and me“ mit einer Art Teufelsaustreibung. Ein Foto Çarkıns wird zum Medium ihrer Fragen. Und doch: Ein Foto kann man formen, kann man knicken, vielleicht sogar vernichten. Çarkın aber wird bleiben – jederzeit abrufbar.

„Ayhan and me“ ist eine stille Befragung der Voraussetzungen für Frieden und Freiheit. Für das Bankhaus Akbank Sanat war der kritische Blick in die türkische Realität jedoch ein Grund, sich von seinem eigenen Engagement zu distanzieren. 2016 kurz vor der Eröffnung in Istanbul abgesagt, ist das von der in Amsterdam lebenden russischen Kuratorin Katia Krupennikova erarbeitete Ausstellungsprojekt „Post Peace“ nun in Stuttgart zu sehen. Zu erleben ist ein internationaler Parcours über politische Realitäten in einer „Nachfriedenszeit“. Krupennikowa hatte 2015 von der Akbank ausgeschriebenen Internationalen Kuratorenwettbewerb gewonnen.

Post Fairy tale von Lyubov Matyunina.

Wie agiert man bei Zensur?

Die „Post Peace“-Absage? Zensur, wie man sie aus Ungarn, Polen und Rumänien kennt, wie sie aber die Kunstvereinsdirektoren Iris Dressler und Hans D. Christ auch 2015 in Barcelona erlebten. Dort indes wurde die zurückgezogene Schau „Die Bestie und der Souverän“ mit einer Woche Verspätung doch noch eröffnet.

Dressler und Christ agierten bei der Entscheidung des Akbank-Kuratorenwettbewerbes als Juroren. Und hätte es noch eines Beleges bedurft, dass der betont gesellschaftspolitische Kurs des Kunstvereins begründet ist – die „Post Peace“-Absage lieferte ihn. Und doch ist die Ausstellung vor allem und zuallererst ein Parcours von in der Mehrzahl herausragenden künstlerischen Arbeiten.

Da sind – geradezu als erweiternde Antwort auf „Ayhan and me“ die Arbeiten „Blaue Orchideen“ von Johan Grimonprez und Larence Abu Hamdans „Mit Gummi beschichteter Stahl“. Im Stil eines Dokumentarfilms lässt Grimonprez den vormaligen „New York Times“-Kriegsreporter Chris Hedges auftreten und Riccardo Privitera, eine schillernde Figur im weltweiten Waffenhandel. Jenes Verschwinden des eigenen Ichs im Kriegsgeschehen, das Hedges ruhig und präzise als kaum zu schließende Wunde beschreibt, ist für Privitera Grundlage und Voraussetzung aller Geschäfte. Formal abstrakter blickt Hamdan auf das befehlswidrige Nutzen scharfer Munition der israelischen Armee im Westjordanland.

Was aber bedeutet es, wenn für den Offizier ein Gummigeschoss abgefeuert wird, um bei weiteren Schüssen scharfe Munition zu verwenden? Welches Selbstverständnis von staatlicher und individueller Überlegenheit macht dies in einem unausgesprochenen Kriegszustand möglich? Diese Frage ist Ausgangspunkt der über eine Videoarbeit von Anna Dasovic zeitlich mit der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald am 11. April 1945 einsetzenden Schau „Post Peace“ – und war auch Impuls einer zweitägigen Konferenz am vergangenen Wochenende.

Iris Dressler und Hans D. Christ konkretisieren: „Wie viel Krieg steckt in unserem Frieden?“ – und ergänzen: „Die Ausstellung schlägt vor, unsere gegenwärtige Situation, in welcher der ,Frieden‘ des globalen Kapitalismus durch kontinuierliche Gewalt und Kriege teuer erkauft wird, mit dem Begriff des Post Peace, der ,Nachfriedenszeit‘ zu fassen.“ Man muss die Sicht der Kunstvereinsverantwortlichen nicht teilen, der von Katia Krupennikova gefundene Begriff „Post Peace“ aber könnte treffender und aktueller kaum sein.

Und gerade so, als misstraue die Kuratorin dem Präsentationsaufwand des „Post Peace“-Parcours im Vierecksaal des Stuttgarter Kunstgebäudes, ist ein Schlüsselwerk wohl bald nicht mehr nur dieser Ausstellung in einem freundlichen Zelt zu erleben: Lyubov Matyuninas Filmexperiment „Postmärchen“. Matyunina entwickelt entlang E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen „Klein Zaches, genannt Zinnober“ (erschienen 1819) eine dichte Collage, in der Kaliningrad, das frühere Königsberg, ebenso als Kristallisationspunkt europäischer Geistesgeschichte wie gewaltsamer nationaler Interessen erscheint. Vor allem aber ist „Postmärchen“ – überdeutliche Anspielung fast an die lieb gewonnene Floskel des Postfaktischen – ein künstlerisches Feuerwerk, das mit den Mitteln des Aktionstheaters die Ebenen von Zeiten und Realitäten aufhebt.

Parcours mit Diskussionsbühne

Parcours mit Diskussionsbühne

Immer wieder gruppieren Iris Dressler und Hans D. Christ in ihren Ausstellungen die Arbeiten um ein offenes Zentrum, um einen Bereich bewusst provozierter Diskussionen. „Post Peace“ nimmt diesen Faden auf – doch ausgerechnet die aus Europaletten gefertigte Installation „Hinterland, nach Stage for Tragedy“ von Ehsan Fardjadniya (Reflex unter anderem auf Andrea Extners Modell „Bühne für Tragödien“ von 1924) wirkt im „Post Peace“-Geviert eher bemüht.

Was bewirken Schreckens-Erinnerungen?

Nicht verpassen aber sollte man Pınar Ögrencis Kurzfilm „Erika und die Nacht“. Die Kamera zeigt die 84-jährige Erika Schlick in ihrer Wohnung. Das laufende Fernsehprogramm über die Weltkriegsjahre 1944 und 1945 begleitet sie mit eigenen Worten, redet sich wie in einem Zeitraffer durch ihr von den Erinnerungen an die Bombennächte geprägtes Leben – um dann unvermittelt umzuschalten und Fußballern den richtigen Weg zum Torerfolg zu weisen.

Vielleicht mehr Parcours denn in sich geschlossenes Ganzes, schafft „Post Peace“ vor allem dies: eine Schärfung des Bewusstseins, wie fremd uns die Gegenwart des Friedens ist.

Die Schau ist bis zum 7. Mai im Kunstgebäude am Schlossplatz in Stuttgart zu sehen (Di–So 11–18 Uhr, Mi 11–20 Uhr). Mehr: www.wkv-stuttgart.de.