Die ARD-Serie „Charité“ bot mehr Liebeleien als starke Arztauftritte. Das Foto zeigt Maximilian Meyer-Bretschneider in der Rolle eines Medizinstudenten, der im Kreis von Schwestern (Alicia von Rittberg und Tanja Schleiff, von links) mit einem neuen Fall von Diphterie konfrontiert ist. Foto: ARD

Das abgelaufene Fernsehjahr stand im Bann alternativer Fakten – und besann sich daher umso mehr auf seine Stärken von Spielfilm bis Nachrichten. Auch für 2018 gilt: Serien wie „Dogs of Berlin“ oder „Das Boot“ geben den Ton an.

Stuttgart - Wenn Realität Fiktion wird und Fiktion Realität, wenn niemand weiß, was noch wahr ist oder falsch, dann verhält sich das neue Jahrtausend wie sich jemand verhält, der kurz vor der Volljährigkeit steht. So ließe sich auch das vergangene Fernsehjahr beschreiben. Als Jahr, das alte Gewissheiten taumeln lässt, weil neue agieren wie die Axt im Wald, der irgendwann mal Wahrheit hieß.

Auch auf den Bildschirmen sind alternative Fakten schließlich so zügig auf dem Vormarsch, dass reale in der Defensive sind. Mit nachrichtlicher Kompetenz und analytischer Tiefe belegten die Öffentlich-Rechtlichen zwar unverdrossen ihre Seriosität. Zugleich aber stellen sie die mit Taskforces à la „Tageschau-Faktenfinder“ oder „ZDFcheck17“ gewissermaßen gleich wieder in Frage – und fallen dennoch auf Joko und Klaas rein, die dem Zweiten beim Übertragen der Goldenen Kamera ein Double von Ryan Gosling untergejubelt haben.

Fesselnde Wirklichkeit

Es blieb nicht die einzige Simulation. Bullenkönig Dietrich Matteschitz simuliert mit seinem Netzkanal Addendum die Suche nach Ehrlichkeit und Alice Weidel mit ihrem Abgang bei Maischberger Spontaneität, ProSiebenSat1-Chef Thomas Ebeling verliert seinen Job für den Anflug von Aufrichtigkeit, sein Publikum fett und faul zu finden, und Neo blamiert sich mit factual entertainment namens „Diktator“. Viel Fake im Fach vermeintlicher Sachlichkeit. Und so sorgte die Fiktion zuweilen für wahrhaftigeren Realismus. Hans-Christian Schmids ARD-Vierteiler „Das Verschwinden“ zum Beispiel macht den Drogensumpf der Provinz glaubhafter als jede Dokumentation. Wirklichkeit kann so fesselnd sein, wenn man Thema und Figuren ernst nimmt.

Genau davon konnte bei Schmids Kollege Wortmann keine Rede sein, als er die „Charité“ des Dreikaiserjahrs 1888 zum Leben erweckte. Im März versank die opulente Nummernrevue großer Ärzte im Quark kleiner Liebeleien und lag damit nur knapp überm Bodensatz der Sat-1-Mittelaltersülze „Ketzerbraut“ oder dem Kostümball „Das Sacher“ aus dem Hause ZDF. Der Lohn: Topquoten, Fortsetzung, herrjeh. Dabei kann Historytainment gehaltvoll sein.

Qualitätvolles läuft wie immer spätnachts

Damit sind aber nicht die Biopics zum 500. Reformationstag gemeint, sondern bewegende Zeitgeschichte wie Matthias Glasners Romanverfilmung „Landgericht“ (ZDF), die zwei NS-Opfern zubilligt, in Freiheit an ihrer Moral zu scheitern. Wer gut ist, wer nicht, blieb auch in Oliver Hirschbiegels Agentenkunststück „Der gleiche Himmel“ Auslegungssache und daher ähnlich sehenswert wie der ARD-Klamauk „Willkommen bei den Honeckers“ mit Martin Brambach als ausgetrickster DDR-Chef im Exil.

Überhaupt: Spielfilme. Sie waren oft von solcher Güte, dass selbst ein Heino Ferch als detektivischer Snob der Suter-Verfilmung „Allmen“ glänzte. Die Reihe ist ähnlich mitreißend wie Fahri Yardim & Christian Ulmen als verpeilte „Jerks“ oder Frederick Lau & Kida Khodr Ramadan als Gangster in „4 Blocks“. Wie Baran bo Odars intensives Provinzdrama „Dark“ oder Tom Tykwers funkensprühendes Zwischenkriegsporträt „Babylon Berlin“. Was dies alles gemeinsam hat? Nichts davon läuft zur Hauptsendezeit großer Kanäle, sondern spätnachts oder online.

Gute Serien werden importiert

Wer sich zugleich inspirationslose Schonkost von der nächsten Krimi-Butterfahrt des Ersten nach Barcelona über die ZDF-Feministin „Zarah“ oder einen „Bad Cop“ auf RTL bis hin zur Rückkehr Josef Matulas ansieht, muss eingestehen: Gute Serien werden importiert wie die belgische Psycho-Sensation „Zimmer 108“ (Arte) oder gestreamt wie der bizarre Horror-Reigen „Room 104“ (Sky). Und ganz egal ob Humor („Santa Clarita Diet“), Drama („Gypsy“), Biopic („Wormwood“), Western („Godless“), Action („El Chapo“), Doku („The Keepers“) oder Film („The Meyerowitz Stories“) – Netflix zeigt dabei in jedem Genre das größte Gespür für Zeitgeist mit Stil, während Amazon für die erste deutsche Eigenproduktion „You Are Wanted“ lieber Matthias Schweighöfer engagiert hat als einen, der mehr als nur Oberflächen poliert.

2018 startet Netflix die zweite Serie aus Deutschland

Und das dürfte sich im kommenden Jahr kaum ändern – auch wenn „Pastewka“ Ende Januar von Sat1 zu Amazon wandert und dort weiter an Qualität gewinnt. Bei HBO endet Game of Thrones mit der 8. Staffel und im Herbst lässt Sky Wolfgang Petersens „Boot“ zu Wasser. Mit „Dogs of Berlin“ startet Netflix die zweite Serie aus Deutschland und taucht dafür atmosphärisch in die urbane Subkultur ein, während gleich zu Jahresbeginn etwas echt Seltsames geschah: MTV ist zurück im Free-TV und alle Welt fragt sich: Für wenn denn bloß? Eher jedenfalls für die nostalgisch gesinnte Generation 50+ als für die Digital natives, die sich fern vom linearen Programm pudelwohl fühlen.

Dort bietet ihnen die ARD Staffel 4 von „Weissensee“, zwei Anwaltsserien, ansonsten viel Sport und nach zwei umstrittenen Mystery-„Tatorten“ maximal zwei Experimente. Das ZDF setzt „Ku’damm“ anno 59 fort und versteckt Jan Böhmermann ohne Oli Schulz weiter bei Neo. RTL gönnt sich mit Daniel Donskoy als falscher Pfarrer „Sankt Maik“ ein frisches Gesicht und dreht für Crime David Schalkos Remake von „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“. Pro7 startet die Erfindershow „Das Ding des Jahres“ und setzt auch sonst auf Joko mit oder ohne Klaas. Sat1 macht Henning Baum vom Bullen zum „Staatsfeind“, leiht sich Carsten Maschmeyer als Existenzgründer von Vox, und die Fiktion, davon dürfen wir ausgehen, wird auch überall sonst zusehends nahtlos in Realität übergehen. Was unterhaltsamer ist, zeigt – nein, nicht die Quote. Aber der Überlebenskampf des Fernsehens alter Art.