Samira Aayla (Name geändert) hat bei der Eva in der Büchsenstraße Hilfe gefunden. Foto: Sascha Maier

Die zentrale Frauenberatungsstelle verzeichnet für 2016 mit 674 Beratungsfällen mehr als je zuvor. Besonders jüngere Frauen im Alter bis zu 25 Jahren greifen auf die Angebote der Wohnungsnotfallhilfe zurück. Das soll vor allem am Wohnungsmarkt in Stuttgart liegen.

Stuttgart - Häufig sind Beziehungsdramen ein Auslöser dafür, dass Frauen ihre Sachen packen, ihre Wohnung verlassen oder rausgeschmissen werden. Das ist die Erfahrung von Iris Brüning, die stellvertretende Geschäftsführerin der zentralen Frauenberatung in Stuttgart. Gelegentlich bewirke auch Gewalt und Missbrauch das, sagt sie. Dazu zähle auch kulturell motivierte Gewalteinwirkung wie etwa Durchsetzungsversuche von Zwangsheirat. 2016 hat Brüning insgesamt 674 Beratungsfälle verzeichnet – das seien mehr als je zuvor. Die immense Nachfrage des Angebots der Wohnungsnotfallhilfe führt sie auf den „katastrophalen und überteuerten Wohnungsmarkt und die Armut in Stuttgart“ zurück.

Das hat zum Beispiel auch Samira Aayla (Name geändert) erleben müssen. Die 24 Jahre alte Frau mit deutscher Staatsbürgerschaft kam vor einigen Jahren aus London zurück in ihr Geburtsland Deutschland. Mit nichts als ein paar Sachen, die sie rasch einpackte. Der Grund für ihre Rückkehr: ihre afghanischstämmigen Eltern wollten sie mit ihrem Cousin zwangsverheiraten und nach Afghanistan schicken – in ein für Samira Aayla völlig fremdes Land. Bereits damals hatte sie einen Freund, heute ist sie mit ihm verheiratet. Als sie in Deutschland ankam, sprach sie die Sprache kaum. Schließlich stand sie alleine vor der Erstaufnahmestelle für in Not geratene junge Frauen vor der Evangelischen Gesellschaft (Eva) in der Büchsenstraße. Einfach war es nicht, bis sie ein Dach über dem Kopf gefunden hatte.

Sie verdient inzwischen ihr eigenes Geld

Es war ein Prozess, der sich über viele Jahre erstreckte, bis sie von geregelten Wohnverhältnissen sprechen konnte. Samira Aayla hält sich mit genauen Angaben zurück. Sie hat den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen und befürchtet, dass diese sie ausfindig machen und ihr etwas antun könnte, wenn sie zu detailliert über ihre Erfahrungen spricht. Zunächst habe sie in einer Notunterkunft übernachtet, bis ein Sozialhotel für sie einen Platz frei hatte. Aktuell lebt sie in einem betreuten Wohnverhältnis. Da sie mittlerweile in einem Modegeschäft arbeitet und entsprechend über ein eigenes Einkommen verfügt, steht die Überführung in ein normales Mietverhältnis kurz bevor. „Bis zur eigenen Wohnung war es ein schwieriger Weg“, sagt Samira Aayla. Aber letztlich bereue sie die Entscheidung nicht.

Vor der Flucht vor ihrer Familie trug die junge Frau eine Burka – heute hat sie Nasenpiercing und schicke Sneakers an den Füßen. Schwer vorstellbar, dass sie in der von den Eltern für sie vorgesehene Rolle in Afghanistan glücklich geworden wäre.

Notunterkunft mit eigenem Stockwerk für Frauen

Fälle wie die von Samira Aayla, aber auch die von jungen Frauen, die aus anderen Gründen in akute Wohnungsnot geraten sind, werden immer häufiger. Besonders im Winter nehmen viele Betroffene das von Sozialamt, Eva und Caritas gestemmte Angebot an Notquartieren in Anspruch. Im Winter 2016/17 waren es insgesamt 1079 Personen, die bei der Kälte nicht wussten, wohin. Der Frauenanteil lag bei etwa 22 Prozent – erstmals überhaupt hatte die Notunterkunft an der Hauptstätter Straße am Marienplatz eigens ein Stockwerk für Frauen eingerichtet. Bei den bis zu 25 Jahre alten Notquartier-Suchenden betrug der Frauenanteil sogar 50 Prozent.

Iris Brüning von der zentralen Frauenberatung kann über die Gründe, warum der Anteil der wohnungslosen Frauen so massiv gestiegen ist, nur spekulieren: „Vielleicht liegt es daran, dass sich Frauen heute weniger gefallen lassen als früher und eher bereit sind, sich aus Abhängigkeitsverhältnissen zu lösen.“ Klar sei für sie aber, dass der überteuerte Wohnungsmarkt in Stuttgart die Situation nicht vereinfache.

Auch in absoluten Zahlen steigt die Nachfrage nach Angeboten der Wohnungsnotfallhilfe

Auch Stephan Bartz von der Anlaufstelle der Eva für junge Frauen in Wohnungsnot, ist zwar täglich mit den Fakten konfrontiert, kommt aber bei der Ursachenforschung ebenfalls nicht über Mutmaßungen hinaus: „Fest steht, dass es für viele Frauen, die beruflich noch nicht mit beiden Beinen im Berufsleben stehen, sehr schwer geworden ist, auf dem freien Wohnungsmarkt etwas zu finden.“ Für Samira Aayla, die Bartz bis heute betreut, sei es da vor einigen Jahren noch leichter gewesen als für die Frauen, die heute zu Bartz kommen.

Nicht nur beim Frauenanteil, auch in absoluten Zahlen steigt die Nachfrage nach Angeboten der Wohnungsnotfallhilfe kontinuierlich. Vor zehn Jahren nutzte gerade mal ein Viertel der heutigen Klienten Notfallunterkünfte. Die zentrale Frauenberatung berät und vermittelt alleinstehende Frauen, die ein Wohnungsproblem haben, von Kündigung oder Räumung bedroht oder bereits wohnungslos sind. Sie vermittelt – je nach Hilfebedarf und freien Plätzen – in betreute Einrichtungen oder in Unterbringungen wie Sozialhotels und Notübernachtungen.