An der Relenberg- und der Azenbergstraße entstehen zurzeit fast 120 Wohnungen – angesichts des Bedarfes in Stuttgart ein Tropfen auf einen heißen Stein Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

3000 oder gar 8000 statt bisher rund nur 1800 Neubauwohnungen? Der Streit darüber, wie viele Einheiten in Stuttgart jährlich gebaut werden müssen und können, verschärft sich. Der Druck auf Oberbürgermeister Fritz Kuhn wächst.

Stuttgart - Die neueste Forderung an die Adresse von Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) hat am Montag der Haus- und Grundbesitzerverein Stuttgart veröffentlicht. Kuhn könne nicht weiter schweigen und bei seiner Zahl von 1800 fertiggestellten Neubauwohnungen pro Jahr verharren, erklärte der Vereinsvorsitzende (und ehemalige Erste Bürgermeister) Klaus Lang. Angesichts von sich überschlagenden Prognosen zum Wohnungsbedarf in Stuttgart frei nach dem Motto „darf es noch etwas mehr sein?“ müsse Kuhn endlich handeln. Aber nicht irgendwie.

Die Zahl 1800 liege zwar sicherlich zu niedrig, die Planung für den Wohnungsbau müsse aber erst einmal auf solide und belastbare Bedarfszahlen gegründet werden. „Der Handlungsbedarf wird immer dringlicher“, urteilte Lang. Sein Geschäftsführer Ulrich Wecker spricht sogar von einem „Skandal“, dass die Stadt seit Jahren hinnehme, dass über den Bedarf geredet wird, sie aber noch nicht einmal die notwendige Analyse in Auftrag gegeben habe. Nach der Analyse müsse Kuhn klare politische Rahmenbedingungen setzen und die regionale Zusammenarbeit forcieren. Denn mit der Nachverdichtung bestehender Wohngebiete in der Kernstadt Stuttgart und den künftigen Baugebieten auf der Zeitstufenliste bis 2025 könne der zusätzliche Bedarf an Wohnungen in Stuttgart nicht erfüllt werden, sagte Lang.

Die Debatte über die Zahlen

Haus und Grund Stuttgart hat jetzt noch einmal auf eine Studie des IW-Instituts mit einer „genauen Bedarfserhebung“ für Stuttgart und die umliegenden Landkreise verwiesen. Für die Landeshauptstadt habe sich da ein jährlicher Bedarf an 3491 neuen Wohnungen bis 2020 und von 2941 Einheiten in den folgenden Jahren bis 2030 ergeben. Die Wissenschaftler vom IW-Institut hätten somit eine frühere Prognose mit 2400 Wohnungen nochmals deutlich heraufgesetzt. „Jetzt geht es fast um das Doppelte der Fertigstellungsrate“, die in guten Jahren bei 1800 Einheiten lag und zuletzt auf rund 1900 angestiegen war.

Die Deutsche Gesellschaft für Mauerwerks- und Wohnungsbau (DGfM) fordert im Einvernehmen mit dem Pestel-Institut, dass Stuttgart 4,3-mal so viele Wohnungen pro Jahr schaffen müsse wie bisher: 7680 Wohnungen. Schon der herkömmliche Bedarf in Stuttgart im Jahr 2015 wird hier mit 4710 Wohnungen angesetzt. Zudem rechne der Pestel-Institutsleiter Matthias Günther mit 2970 Wohnungen, die in Stuttgart für die Flüchtlinge gebraucht würden, die in diesem Jahr gekommen seien oder noch kommen. Laut Günther müsse sich Stuttgart auch in den kommenden Jahren auf einen „hohen Wohnraumbedarf einstellen“, die Neubaurate enorm steigern und leerstehende Wohnungen sanieren. Der Verein Immobilienwirtschaft Stuttgart (IWS) hat die Debatte zum Anlass genommen, 8000 neue Wohnungen pro Jahr zu fördern. Der Mieterverein Stuttgart, der seit Monaten auch Druck für die Bereitstellung von deutlich mehr Wohnungen in Stuttgart macht, verlangt 15 000 Neubaueinheiten in den nächsten fünf Jahren, also 3000 Wohnungen neue pro Jahr in Stuttgart.

Spezialfall Sozialwohnungen

Sie sind das Kernproblem, denn in Stuttgart fehlen vor allem bezahlbare Wohnungen, die es Menschen mit geringerem oder mittlerem Einkommen erlauben, in der Stadt zu wohnen, in der sie arbeiten – und nicht draußen in der Region. Bei den Sozialwohnungen wollte OB Kuhn 2015 eigentlich wieder den Aufbau des Bestandes einläuten, doch die Zahl der Förderfälle bei der L-Bank dürfte unter 100 bleiben. 300 Sozialwohnungen pro Jahr waren Kuhns Ziel. Mit der massiven Erhöhung der Sozialwohnungsquote in einigen wichtigen Baugebieten will die Stadtverwaltung bis 2019 nun aber doch 1790 neue Sozialwohnungen ermöglichen. Für Kuhn war und ist aber auch klar, dass die Lösung des Wohnungsproblems in Stuttgart ohne die Region nicht möglich ist.

Die Rolle der Region

Der Verband als Verantwortlicher für die Regionalplanung ist ein Schlüsselspieler für mehr Wohnungsbau in der Region. Schon vor fast zehn Jahren hat er 41 Wohnungsbauschwerpunkte in der Region formuliert, meist entlang der Siedlungsachsen, die angelehnt sind an die S-Bahn-Trassen. Von der Gesamtfläche ist knapp die Hälfte inzwischen bebaut. Mit dem Rest sind noch Wohnungen für etwa 31 000 Menschen realisierbar. Zieht man noch heran, was im Flächennutzungsplan an sonstigen Bauflächen übrig ist, kann man sich Wohnungen für weitere 100 000 bis 110  000 Einwohner vorstellen.

Warum die Schwerpunkte nur teilweise realisiert sind, will der Verband jetzt bei den Gemeinden und Städten abfragen. Er werde für die Bebauung werben, sagte Regionalpräsident Thomas Bopp (CDU) unserer Zeitung. Sicherlich sei die Flüchtlingswelle unter dem Aspekt des Wohnungsbedarfs schwierig, aber Zuzug von Menschen habe es in der Region, abhängig von der Wirtschaftskonjunktur, schon lange davor gegeben und werde es weiterhin geben. „Wir würden auch den schon länger hier lebenden Menschen nicht gerecht, wenn wir so täten, als hätten wir das Wohnungsproblem nur wegen der Flüchtlingszuwanderung“, sagte Bopp.

Der Chef des Verbandes Region Stuttgart setzt auf eine Doppelstrategie: dass der VRS die Reserven bei den Wohnungsbauflächen aktiviert und auch die Stadt Stuttgart „das eine oder andere neue Wohngebiet ausweist“. Nur einen Hebel zu betätigen, werde nicht genügen. Alle Beteiligten in der Region müssten nach Kräften bei der Problemlösung mitwirken, „das Oberzentrum Stuttgart besonders“, ohne gleich die Hänge zuzubauen. Dass maximal rund 1800 neue Wohnungen pro Jahr gebaut werden, „wird nicht reichen“, sagte Bopp. Speziell bei den Sozialwohnungen könne Stuttgart nicht hoffen, durch Neubauten in der Region entlastet zu werden. Bei der Reaktion auf den großen Wohnungsmangel fordert Bopp trotzdem auch Besonnenheit. Er habe die Sorge, dass nun das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werde und man nicht mehr schaue, wo Neubauten am sinnvollsten seien – nämlich entlang der definierten Siedlungsachsen.