Stadtmenschen aus Überzeugung: Jenny, Zoé und Oliver Popp (v. l.) mit Hund Goliath Foto:  

Jochen Ansel wohnt im Allgäu und arbeitet in Stuttgart. Auf dem Land vermissen sie nichts – fast nichts. Familie Popp hingegen fühlt sich im Stuttgarter Westen pudelwohl.

Stuttgart - Natalie und Jochen Ansel fackeln nicht lange. Über ihren Umzug als Familie ins Allgäu jedenfalls hat das Ehepaar nicht übertrieben viele Worte verloren. Im Oktober 2004, Jochen Ansel war mit Freunden zum Mountainbiken in den Bergen, rief der Chef der Cannstatter PR-Agentur Ansel & Möllers seine Frau daheim in Fellbach an. „Wir wollten doch in die Berge ziehen“, sagte er. „Das stimmt“, antwortete Natalie Ansel.

Bis Jochen Ansel wieder daheim war, hatte seine Frau die ersten Immobilienangebote aus dem Internet gefischt. Zwei Monate später gehörte ihnen ein ehemaliges Sägewerk im bayrischen Missen-Wilhams. 380 000 Euro kostete das Haus mit Garten im Dezember 2004, weitere 150 000 Euro steckte die Familie in die energetische Sanierung des Gebäudes. Bereis im Mai 2005 zog das Paar mit der damals sechs Jahre alten Tochter und dem fünfjährigen Sohn um. Sie kamen in eine neue Welt.

Die 45 000 Fellbacher müssen schon aufpassen, dass sie die Stadtgrenze zu Stuttgart nicht verpassen, Missen-Wilhams hat nur 1400 Einwohner. Die Kleinstadt Immenstadt ist zwölf, Isny 16 Kilometer entfernt. Es gibt einen Kindergarten, einen Supermarkt, eine Brauerei und Wirtschaften. Und es gibt die Berge, Wiesen, Natur. Die sportbegeisterten Ansels können vor der Türe Ski fahren, radeln, wandern, golfen – „das ist unsere Welt“, sagt Jochen Ansel (50).

Mit jedem Kilometer wächst die Distanz zum Büro

Jeden Montag steigt Jochen Ansel seitdem um vier Uhr morgens im Oberallgäu ins Auto und fährt in zwei Stunden die 200 Kilometer ins Büro. Donnerstagabends geht es retour. Freitags schafft der Chef daheim. „Gedanklich kann ich besser abschalten“, sagt Ansel. Mit jedem Kilometer wächst auch die innere Distanz zur Arbeit.

Natalie Ansel, die schon damals im Homeoffice als Betriebswirtin für ihren Arbeitgeber in Neckarsulm tätig war, wurde so zur Teilzeit-Alleinerziehenden. Als Nachteil hat sie das nicht empfunden. „Für mich war das einfacher als in Fellbach“, sagt die 51-Jährige. Schafft es der Gatte zum Abendessen? Soll sie warten? Sieht er die Kinder noch vor dem Schlafengehen – „dieser Stress ist rausgenommen worden aus unserem Familienleben“, sagt Natalie Ansel. Die andere Seite: „Die Fahrerei ist nicht weniger geworden.“ Ohne Auto geht nichts. Aber wenn sie ihre Tochter um 17 Uhr von Fellbach nach Schmiden zum Turnen gefahren habe, sei sie auch nicht schneller gewesen als jetzt nach Isny.

Ohne Auto geht gar nichts

Im Dorf hat sich die Familie flott eingelebt. Ansels engagierten sich in den örtlichen Vereinen. Tochter Charlotte und Sohn Ferdinand sprechen beide Allgäuerisch, bald stehen sie auf eigenen Beinen. Die 19-Jährige studiert BWL in Kempten, ihr Bruder will ebenfalls studieren. Ihre Eltern werden im Allgäu bleiben. „Vielleicht gehe ich zwei, drei Tage die Woche mit nach Stuttgart“, sagt Natalie Ansel, vom Feinstaub geschwängerte Großstadtluft schnuppern. Denn bei aller Liebe zum Land – die gastronomische Vielfalt vermisst die 51-Jährige doch sehr. „Krustenbraten kann ich nicht mehr sehen.“

Jenny und Oliver Popp mussten nicht lange fackeln. Für das Paar gab es nur zwei Alternativen: im Stuttgarter Süden oder im Westen wollten sie wohnen, nirgendwo sonst. „Wir sind Stadtmenschen“, sagt die 48-Jährige. Vor sechs Jahren tauschten sie ihre Mietwohnung in der Liststraße gegen die eigenen vier Wände in der Forststraße. Für 450 000 Euro bekamen sie zwei Dreizimmerwohnungen plus Dachboden im obersten Geschoss eines Altbaus. Heute, schätzt der 44-Jährige, müssten sie mindestens das Anderthalbfache bezahlen. Lange suchen mussten sie ebenfalls nicht. „Wir hatten Glück.“ Sie entdeckten die Annonce im Internet, meldeten sich sofort – und bekamen den Zuschlag: ein Traum.

Sie rissen Wände heraus, dämmten und sanierten den Boden, trennten eine kleine 45-Quadratmeter-Wohnung ab, die sie vermieten – und leben seitdem in 25 Meter Höhe auf zwei Etagen auf 130 Quadratmetern. Im offenen Wohnbereich brennt der – feinstaubbefreite – Komfortkamin, mitten in der Wohnung ist die großzügige Loggia. Eine frei schwebende Treppe führt in das Obergeschoss, wo die Popps und ihre achtjährige Tochter Zoé ihre Schlafzimmer haben. An einer Stufe ist ein Autoreifen befestigt, der als Schaukelpferd für Zoé dient.

Man kennt sich und hilft sich

Für die Familie habe das Leben in der Stadt viele Vorteile. „Auf dem Land gibt es sicher auch einen Bäcker“, sagt Jenny Popp. „Wir haben hier fünf in fußläufiger Entfernung zur Auswahl.“ Ähnliches gelte für das kulturelle Angebot und für die Schulen. Ihre Tochter habe später die Wahl zwischen einer Handvoll Gymnasien mit den unterschiedlichsten Fachausrichtungen. Von großstädtischer Anonymität können sie ebenfalls nicht berichten. Im Haus leben andere Familien mit Kindern, man kennt sich und hilft einander.

Gut, in der Stadtwohnung habe man keinen eigenen Garten. „Dafür stellen wir unser Kind nicht im Garten ab, sondern beschäftigen uns mit ihm“, sagt Oliver Popp. Und am Wochenende geht es oft raus zu den Bärenseen. Sicher, auch Stauraum fehle, weil es keinen Keller gibt. Aber dann bewahre man nicht so viel überflüssigen Krempel auf, finden die Popps. Und die 81 Stufen hinauf in die Maisonettewohnung führen nicht nur heim, sondern auch raus aus dem Lärm – und sie halten fit.

Pendler sind Jenny und Oliver Popp dennoch. Sie arbeitet in einer Rechtsanwaltskanzlei in Degerloch, er leitet die Filiale einer Versicherung in Waiblingen. Beide fahren mit dem Auto zur Arbeit, Oliver Popp ist beruflich viel unterwegs, er fährt morgens am Stau stadteinwärts vorbei raus aus der Stadt. Die Familie hat zwei Fahrzeuge, trotz der vielfach beklagten Parkplatznot im Westen. „Kein Problem“, sagt Oliver Popp. In drei Gehminuten Entfernung finde sich immer ein Stellplatz. So sehr die Familie die städtische Infrastruktur schätzt, das ÖPNV-Angebot nutzen die drei kaum. Die Tickets bis zur Stadtmitte kosteten 6,30 Euro, rechnet er vor. „Da gehen wir lieber zu Fuß“ – oder man nimmt die Autos, die ohnehin bezahlt werden müssen.