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Nach drei Wochen Urlaub sind wir auf der Heimreise. Dank der deutschen Boulevardpresse sind wir auf dem Laufenden: Ein wichtiger Mann ist entführt, seine Bewacher sind erschossen worden.

Uns Kindern ist mulmig zumute. Die Geschwindigkeit, in der die Kolonne die Passstraße bergan kriecht, mit dem Begriff Schneckentempo zu umschreiben, wäre maßlos übertrieben. Fahren, anhalten, warten, weiterfahren, wieder anhalten, wieder warten. So geht das seit Stunden. Der Wurzenpass verbindet das einstige Jugoslawien und heutige Slowenien mit Kärnten in Österreich. Mit jedem Meter, den wir die Serpentinen vorankommen, nimmt unser Unbehagen zu. Beinahe bei jedem Stopp steigen die Eltern aus. Wir hören sie mit anderen Reisenden palavern. Über das Schreckliche, das zu Hause in Deutschland passiert ist.

Nach drei Wochen Urlaub an der kroatischen Adria sind wir auf der Heimreise. Dank der deutschen Boulevardpresse, die es auch im damaligen Jugoslawien zu kaufen gibt, sind wir auf dem Laufenden: Ein wichtiger Mann ist entführt, seine Bewacher sind erschossen worden.

Begriffe wie Rote-Armee-Fraktion oder RAF waren im Jahr 1977 uns Zehn-, Elfjährigen nicht geläufig. Natürlich hatten wir mitbekommen, dass seit Jahren Gangster in Deutschland ihr Unwesen trieben. Die Großmutter hatte uns oft vor "der gefährlichen Baader-Meinhof-Bande" gewarnt. Bande - das Wort war für uns Jungs eher faszinierend als angsteinflößend. In einem 1000-Seelen-Dorf bei Neu-Ulm aufgewachsen, hatten auch wir Banden gegründet, oder das, was wir dafür hielten. Mit Bonanza-Rädern jagten wir auf Feldwegen anderen Banden nach. Deren Zusammensetzung wechselte wöchentlich, man war mal hier, mal dort Mitglied. Und wenn die Mütter zum Abendbrot riefen, gingen wir einträchtig nach Hause. Die Ereignisse, die Deutschland in Atem hielten, waren für uns so real wie Schurken in "Winnetou"-Filmen.

Wirklichkeit sind hingegen jetzt die jugoslawischen Polizisten mit ihren Maschinengewehren im Anschlag. Ständig patrouillieren die Beamten die Passstraße auf und ab, schauen hier in einen Kofferraum, dort in einen Caravan. Sie lassen kaum ein Fahrzeug aus. "Sie suchen nur den entführten Hanns Martin Schleyer." So oder so ähnlich versuchen uns die Eltern zu beruhigen. Vergeblich.

Wir sind seit dem frühen Morgen unterwegs, längst dämmert es. Aber an Schlaf ist nicht zu denken. Nicht deutsche Gangster machen uns Angst, sondern das, worüber Mutter und Vater bei der Abfahrt noch gescherzt haben: Unsere Gastgeber hatten ihnen zum Abschied selbst gebrannten Sliwowitz geschenkt - mehr als erlaubt. Was, wenn die Polizisten bei uns die Verbrecher vermuten und dabei zu viel Hochprozentiges finden?