Angela Merkel schreitet im Europawahlkampf nicht mehr voran – sie macht sich fast unsichtbar. Foto: dpa

Kanzlerin Angela Merkel scheint im Europawahlkampf ihrer Partei unsichtbar zu sein. Sowohl sie selbst als auch die CDU haben unterschiedliche Motive für diese noch nie praktizierte Distanzierung – wir nennen die fünf wesentlichen Gründe.

Stuttgart - Im Europawahlkampf 2014 war Angela Merkel noch omnipräsent – die Kanzlerin war das Pfund, mit dem die CDU gewuchert hat. Diesmal scheint sie gänzlich abgetaucht. Weder auf den Plakaten noch bei den Wahlkampfauftritten ist sie vertreten. Zum Auftakt am Samstag in Münster fehlte sie somit, lediglich bei der Abschlusskundgebung am 24. Mai und bei einem Treffen mit anderen Staats- und Regierungschefs in Zagreb will sie dabei sein. Ähnliches wird für die Landtagswahlkämpfe dieses Jahres gelten.

Aus gutem Grund vermisst EU-Kommissar Günther Oettinger einen „neuen Aufbruch“ für Europa, wie der CDU-Politiker unserer Zeitung sagte. Und die europäischen Nachbarn wundern sich, dass die CDU ihre lange Zeit beliebteste Politikerin nicht mehr nach vorne schiebt. Gerade jetzt, da die Zukunft Europas auf dem Spiel steht, marschiert sie nicht voran. Auch dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron offen über „Unstimmigkeiten“ mit Merkel sinniert, lässt sie offenbar kalt – eine Antwort bleibt jedenfalls aus. „Sie wird überhaupt nicht versteckt“, versichert dennoch CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer. Vielmehr „unterstützt sie uns mit ihrer Regierungsarbeit“. Dazu fünf Gründe, warum Merkel nahezu unsichtbar scheint in diesem Wahlkampf.

Merkel lässt Kramp-Karrenbauer den Vortritt

Früh hat die Kanzlerin ihre Partei wissen lassen, dass sie sich im Europawahlkampf zurückhalten wolle. Der Rückzug in Raten gibt ihrer Nachfolgerin als CDU-Vorsitzende, Annegret Kramp-Karrenbauer, den nötigen Spielraum, um sich zu profilieren. Merkel entbindet diese ein Stück weit von der Pflicht, stets auf den Zusammenhalt der beiden zu achten. Stets war sie der Meinung, dass Kanzleramt und CDU-Vorsitz in eine Hand gehören. Nun will sie zumindest einen sanften Übergang schaffen. Doch diese Strategie könnte auch fehlschlagen, denn die Umfragewerte von „AKK“ steigen nicht – sie sinken. Und immer häufiger könnte angesichts der Doppelspitze die Frage auftauchen, wer eigentlich das Sagen hat: die Kanzlerin oder die Parteichefin?

Die Partei will sich von Merkel emanzipieren

Für die CDU ist die Defensive ihrer früherer Vorsitzenden zugleich Verlust und Befreiung. Merkel vertritt für erhebliche Teile der CDU eine Politik von gestern. Die Partei will daher ohne sie in die Offensive kommen, unbelastet von der Regierungspolitik der vergangenen Jahre muss sie eine neue Programmatik und Ausrichtung entwickeln. Die CDU wird – beispielsweise in der Flüchtlings- oder Wirtschaftspolitik – Leitlinien entwickeln, die womöglich auch dem Kurs von Merkel zuwiderlaufen. Wenn der EU-Spitzenkandidat Manfred Weber etwa – der anders als Merkel gegen die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 kämpft – sagt, er fühle sich von dieser „voll unterstützt“, so meint er offenkundig damit auch: Die Unterstützung besteht darin, ihm nicht in die Parade zu fahren.

Merkel belastet die Einheit der Union

Angela Merkel steht – wie Bundesinnenminister Horst Seehofer – für den Zwiespalt in der Union. Beide hätten im vorigen Sommer fast die Fraktionsgemeinschaft und die Regierung gesprengt. Der einstige Gegenspieler hat nicht mehr viel zu sagen bei der CSU. Also muss auch Merkel den Weg frei machen für eine Versöhnung der Unionsschwestern, wie sie am vorigen Samstag in Münster bereits zu besichtigen war. Damit könnte auch Friedrich Merz als Liebling der Konservativen in der Union wieder ganz nach oben gelangen – an der Seite von oder unter Kanzlerin Merkel wäre sein Mitwirken keinesfalls denkbar angesichts der Rivalitäten in der Vergangenheit.

Merkel will den Wahlkampf der CDU nicht belasten

Die Kanzlerin weiß aus den Umfragen, dass sie mit starker Präsenz für ihre Partei keine Wahlen mehr gewinnen kann. Ihr bekannt hohes Verantwortungsbewusstsein bringt sie nun dazu, sich zurückzunehmen. Für die Rechtspopulisten ist sie ohnehin ein rotes Tuch – sie will ihnen nicht mehr die Gelegenheit geben, sich an ihr zu reiben. Die in früheren Wahlkämpfen erfolgreich praktizierte Strategie der asymmetrischen Demobilisierung, bei der kontroverse Themen ausgespart wurden, funktioniert nach dem Erstarken der AfD nicht mehr. Dies könnte bei den Wahlen am 26. Mai sowie im Herbst in Brandenburg, Sachsen und Thüringen Stimmen kosten.

Merkel hat keine Lust mehr

Angela Merkel wirkt erschöpft und verbraucht. Sie zeigt keine Neigung mehr, ihrer Partei mal den Wunsch nach Nähe und mal nach Distanz zu erfüllen – je nachdem, was dieser gerade opportun erscheint. Sie nimmt vor allem noch Repräsentationstermine wahr, die sie nicht mehr groß fordern. So drängt sich der Eindruck auf, als habe sie nicht mehr die Kraft, der CDU noch die nötigen Impulse zu geben oder gar die Europäer beisammen zu halten. Sie will ihre Amtszeit bis spätestens 2021 auslaufen lassen – oder das Kanzleramt gar vorzeitig an Kramp-Karrenbauer übergeben.