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Alle Spiele, alle Tore – Fußball total! Ist es möglich, sich alle 64 Spiele der Weltmeisterschaft in Brasilien anzuschauen? Ein Selbstversuch.

Stuttgart - Wie viel TV-Fußball verträgt der Mensch? In meinem sozialen Umfeld sind die Einschätzungen nicht total deckungsgleich. Ein Spiel im Jahr, meint meine Frau. 64 WM-Spiele in vier Wochen dürfen es schon sein – meine ich. Live natürlich und notfalls mit Verlängerung und Elfmeterschießen. Da lässt sich ein Kompromiss bei gutem Willen leicht finden. Ich wäre bereit, auf das Spiel um den dritten Platz zu verzichten. Man muss seinen Partner schließlich ernst nehmen. Das Spiel Honduras gegen Ecuador ist im äußersten Notfall auch noch verhandelbar. Obwohl ich da sehr zögerlich bin.

Denn eigentlich läuft längst mein großer Selbstversuch: alle Spiele, alle Tore. Das will vorbereitet sein. Fußball ist Organisation, wusste schon Sepp Herberger.

Umfangreiche Info-Materialien liegen bereit. Diverse Familientreffen, Einladungen und Verabredungen zu Schach, Kino und Konzert sind abgesagt. Frühmorgendliche Zahnarzttermine auch. Man muss schließlich Prioritäten setzen.

Das Leben verlangt auch eine gewisse Härte. „Papa“, fragt doch meine kleine Tochter am Freitag allen Ernstes, „kann Frieda am Wochenende zu uns kommen?“ Am Wochenende? Äh, Blick auf den Spielplan. Faktencheck: Kolumbien – Griechenland, Uruguay – Costa Rica, England – Italien, Schweiz – Ecuador, Frankreich – Honduras. „Du, ähm, leider, diesmal geht’s nicht. Ich habe ganz dringende Termine.“ Doch, doch, meine Tochter versteht das.

Noch zu klären: zu Hause oder draußen? Der Fernseher ist für alle da, sagt meine Frau, was ja theoretisch irgendwo seine Berechtigung hat. Also manchmal draußen. Was aber das Problem nur verschiebt, denn eine neue Frage taucht auf: Biergarten oder Stammlokal? Biergarten hat die supergroße Leinwand, Stammlokal ist eng – und kleiner Bildschirm.

ABER: Biergarten hat WM-Tarife, Stammlokal ist preislich eher deflationär. Außerdem sitzen im Biergarten die Modegucker, die ahnungslosen Wellenreiter, die Freizeitfans. Wie Gaffer an der Autobahn. Freitagabend: Holland gegen Spanien im Biergarten. Er: „Ach, kuck ma Inge, dat da ganz vorne, is dat der van Persil oder der van Basten – spielt der überhaupt noch?“ Sie: „Jetzt hamm se aber ne Chance verballert! Wie sich alle aufregen. Is doch lustig, hab ich doch gesacht.“ Das halte ich nicht aus.

Wirklich schwierig war das Nachtspiel: Japan gegen Elfenbeinküste. Ich war neugierig. Der Biergarten („Alle Spiele, alle Tore“ als großes Werbeplakat) hatte tatsächlich alles dicht. Stammlokal sowieso. Beim Italiener gab es große Party. Aber nach dem Sieg gegen England war das Interesse an der Elfenbeinküste skandalöserweise etwas reduziert. Stattdessen Rai Uno über Satellit. Der 24-Stunden-Kiosk um die Ecke hatte einen Kleinstfernseher aufgestellt. Tapfer. Aber das war auch irgendwie trostlos. Längeres Suchen konnte ich mir nicht erlauben, denn der Anpfiff rückte unerbittlich näher.

Ich habe dann eben zu Hause geschaut – mit gedämpftem Ton. Zwischendurch – ja, okay, ich gebe es zu – bin ich eingeschlafen. Aber nur kurz. Mein Unterbewusststein blieb am Ball. Den sensationellen Doppelschlag der Elfenbeinküste habe ich live miterlebt. Großartig. Der Fußball belohnt seine treuen Diener.