Tite im Kreise seiner Mannschaft Foto: AFP

Unter dem 57-jährigen Tite, genannt „Professor“, pflegt die Seleção wieder ein Spiel, mit dem sich die verunsicherte und der Kunst zugeneigte Fußballnation Brasilien identifizieren kann.

Moskau - Alleine ist Adenor Leonardo Bachi, genannt Tite, bei dieser Weltmeisterschaft noch nicht öffentlich aufgetreten. In die Presserunden bringt er immer seinen Assistenten Sylvinho mit, ein leerer Stuhl befindet sich dann zwischen Tite, dem großen Meister, dessen Name für die Rettung des brasilianischen Fußballs steht, und dem Adlatus, der für den technokratischen Unterbau der großen brasilianischen Fußballerneuerung verantwortlich ist. „Fragt doch mal Sylvinho“, sagt Tite, der Nationaltrainer der Seleção, wenn er das Gefühl hat, zu sehr im Mittelpunkt zu stehen, und der Assistent wirft dann ein paar taktische Details ein, statistische Daten. Dinge, die Tite zwar für wichtig hält, für die er aber keine Leidenschaft empfindet. Seine Liebe gilt den Menschen und der Philosophie. Mit dieser Mischung hat er die sterbende Seleção wiederbelebt, der zum Erreichen des Achtelfinals an diesem Mittwoch noch ein Unentschieden gegen Serbien fehlt.

Das 1:7-Trauma wirkt nach

Nach dem traumatischen 1:7 gegen Deutschland bei der Heim-WM hatte zunächst Carlos Dunga das Nationalteam übernommen und war 2016 bei der Copa América in der Vorrunde ausgeschieden – in einer Gruppe mit Haiti, Peru und Ecuador. In der WM-Qualifikation stand Brasilien zu diesem Zeitpunkt auf Rang sechs, der nicht gereicht hätte. Die folgende Berufung Tites, eines Mannes, der selbst nie ein großer Spieler war, wurde zum Wendepunkt. „Ich bin fast in jedem Job gefeuert worden, den ich hatte“, scherzt er nun, diese Art der Koketterie gefällt ihm – und seinen Zuhörern, die ihn alle nur „Professor“ nennen, auch. Tite ist ein ausgesprochen einnehmender Mann.

Im Anschluss an die Pressekonferenz nach dem 2:0-Sieg gegen Costa Rica scherzt er ausgiebig mit brasilianischen Journalisten, nickt viel, stimmt den Thesen der Berichterstatter zu, gibt ihnen das Gefühl, Teil einer gemeinsamen Sache zu sein. Kritiker hat er kaum. „Tite ist ein fantastischer Trainer, mit einer großen Kenntnis des Spiels, für die Seleção war dieser Wechsel fundamental“, sagt der ehemalige Nationalmannschaftskapitän Zico, einer der Meinungsführer in dieser gigantischen Fußballnation.

Tite als Psychologe gefragt

Die vielleicht größte Leistung des 57-Jährigen fällt dabei ins Segment der Psychologie: Tite hat die Mannschaft von ihren Ängsten befreit. Von der Sorge, Fehler zu machen. Und von der Furcht vor Neymars Sonderrolle, die oft als Abhängigkeit empfunden wurden, die das Kollektiv belastete. Tite, dessen größter Erfolg der Gewinn der Club-Weltmeisterschaft 2012 mit Corinthians aus São Paulo war, hat ein Gespür für den Menschen im Fußballstar. „Es geht darum, einen Geist für dieses Turnier zu entwickeln, die Gruppe zu stärken, als Team zu wachsen“, sagt er. Es war seine Idee, die Mannschaft in jeder Partie von einem anderen Kapitän aufs Feld führen zu lassen – alle sollen sich in diesem Team wichtig fühlen.

Als nach dem ersten Spiel die Idee kursiert, Neymar wegen seiner vielen Dribblings auf die Bank zu setzen, wird er allerdings streng: „Wir brauchen Leute, die ins letzte Drittel eindringen und dort Dinge kreieren, das möchte ich keinem Spieler wegnehmen.“ In diesem Satz liegt ein Kern seiner Arbeit. Nach Carlos Dunga, einem ehemaligen Abwehrspieler, der stark von den europäischen Defensivstrategien geprägt ist, spielt Brasilien wieder einen Stil, mit dem die anspruchsvolle, der Kunst zugeneigte Fußballnation sich identifizieren kann.

Prediger statt Nerd

Wobei sich auch Tite intensiv mit dem neuesten Stand der Fußballentwicklung auseinandergesetzt hat. Bevor er die Seleção übernahm, hospitierte bei Real Madrid und verschiedenen Clubs in England, überdies hat er sich ausführlich mit Pep Guardiolas Arbeit befasst. Nun spielt Brasilien sehr gut organisiert, hat das Mittel des Pressings kultiviert, auch wurden ausgefeilte Strategien entwickelt, tief stehende Gegner durch ein ambitioniertes Kombinationsspiel mit Läufen in die Tiefe auszuhebeln. Über Taktik lässt Tite trotzdem lieber seinen Assistenten Sylvinho sprechen. Er ist kein Fußballnerd, er bevorzugt die Rolle des Predigers.

Wenn Tite loslegt, streckt sich sein Zeigefinger, er deutet mal nach links, mal nach rechts oder haut sanft mit der flachen Hand auf den Tisch. Das Hemd ist aus mitteleuropäischer Perspektive vielleicht einen Knopf zu weit geöffnet, darunter schimmert eine dicke Goldkette, die sanft auf einem silbrigen Brustfell ruht.

Der Trainer erzählt gerne und genießt es, seine Zuhörer zu fesseln. Wenn er zu den brasilianischen Journalisten spricht, ist eine Vertrautheit zu spüren, die es manchmal auch in der Bundesliga gibt, wenn ein langjähriger Clubtrainer sich mit den Lokalreportern austauscht, die jeden Tag am Trainingsgelände sind. Brasiliens Fußball hat wieder zueinandergefunden, und Tite ist die Kraft, die diese Wiedervereinigung angetrieben hat. Wobei dieser Zustand natürlich sehr sensibel ist, eine Niederlage und ein frühes WM-Aus können das Werk wieder vollständig zum Einsturz bringen.