Zwei Freistoß-Künstler unter sich: Marco Reus (li.) und Toni Kroos feiern das 2:1 der deutschen Mannschaft gegen Schweden. Foto: dpa

Mit seinem grandiosen Freistoßtor in der Nachspielzeit hat Toni Kroos dem deutschen Team den ersten Sieg bei der WM 2018 beschert. Doch in dem Star von Real Madrid steckt noch viel mehr.

Sotschi - Antippen, kurzer Anlauf, perfekte Schusstechnik, grandios gezielt – und dann: Emotionen pur. Dieser Freistoß an sich war schon Toni Kroos pur. Doch beschreibt er den deutschen Weltstar von Real Madrid nicht allumfassend. Wer Kroos begreifen, ihn als Fußballer verstehen will, der muss ein bisschen weiter zurückschauen – auf die Szenerie unmittelbar vor dem ultimativen Schuss zum Sieg der deutschen Mannschaft am Samstagabend in Sotschi gegen Schweden.

Da stehen also Kroos und Marco Reus. Das Spiel war vorher schon mehrmals übergekocht im subtropischen Sotschi, alle waren heißgelaufen, und auf dem Platz hatte längst keiner mehr, der über wildes Anrennen (die Deutschen) und mannhaft verteidigen (die Schweden) hinausging. Doch dann passierte Rationales.

Der Ball liegt an der linken Strafraumgrenze zum Freistoß bereit. „Dann wollte Marco erst direkt schießen“, berichtete Kroos nach der Partie von der Mini-Klausur der Standard-Spezialisten, „da hab’ ich zu ihm gesagt: ‚Hm, bin ich nicht überzeugt von‘.“ Und dann? „Haben wir uns für den Weg entschieden, einfach noch mal reinzuspielen, um einen besseren Winkel zu bekommen – und dann zu schießen.“

Rational in der Hitze des Gefechts

Plan gemacht, Plan umgesetzt, Plan aufgegangen – auf grandiose Art und Weise. Doch Kroos redete über sein Kunstwerk von einem Freistoß eben so, als käme er gerade vom Bäcker. Schatz, die Sesambrötchen waren aus. Hab ich halt die anderen genommen, hat ja auch geklappt, Tüte ist voll. Und man bekam den Eindruck: Selbst wenn neben Toni Kroos der Blitz einschlagen würde, käme der 28-Jährige wohl nicht wirklich in Wallung. Er würde wohl sauber abwägen, danach den Weg der Vernunft gegen und Schutz suchen. Draußen bleiben? „War ich nicht überzeugt von.“

Am Samstagabend nun hat nicht der Blitz eingeschlagen im schwedischen Tor – sondern der Freistoß von Toni Kroos, dem Eisschrank von einem Fußballer. Der einfach immer weitermacht. Der seinen Stiefel runterspielt. Der an sich glaubt, auch wenn es gerade kein anderer tut. Der da ist, wenn es darauf ankommt. Der immer einen Plan hat – und eine Schlusspointe im Sortiment. Schlenzen oder schießen? Kroos machte am Samstag einfach beides gleichzeitig, zirkelte den Ball um die schwedische Mauer herum ziemlich genau in den Winkel. Dabei war vor diesem Einschlag ja schon einiges eingeprasselt – auf das deutsche Team. Und auf Toni Kroos im Speziellen.

Kapitaler Fehlpass vor dem 0:1

Wie schon gegen Mexiko erwischte der viermalige Sieger der Champions League einen rabenschwarzen Tag. Wenn Kroos tatsächlich die Passmaschine ist, als die er immer beschrieben wird, dann wäre gegen Mexiko und Schweden in drei von vier Halbzeiten ein großes „Error“-Zeichen auf seiner Stirn geklebt. Denn Kroos war es, der das 0:1 gegen Schweden mit einem kapitalen Fehlpass eingeleitet hatte – und daraus keinen Hehl machte. Kann ja mal passieren, dass der Blitz auch derart einschlägt.

„Natürlich geht das Gegentor auf meine Kappe, das ist keine Frage. Aber wenn du im Spiel 400 Pässe spielst, kommen eben auch mal zwei nicht an“, sagte Kroos und ergänzte mit dem ihm eigenen Selbstverständnis: „Wenn so ein Fehler zum Tor führt, ist das blöd. Du musst dann aber auch die Eier haben, die zweite Hälfte so zu spielen.“

Kross taucht nicht ab, wenn es schlecht läuft

Kroos spielte in dieser zweiten Hälfte noch immer nicht gut. Aber er führte sein Team so, wie er es immer führt. Er tauchte nicht ab, forderte die Bälle und demonstrierte: Ich bin da, ich übernehme Verantwortung, auch wenn es bei mir gerade nicht so läuft. Ich mach’ das – auch auf die Gefahr hin, weinen weiteren Fehler zu begehen. Kroos weiß eben, was er kann. Und was er der Mannschaft mit seinem Zutrauen in die eigene Stärke verleihen muss: ein Gefühl von Selbstsicherheit. Wenn die anderen sehen, dass da einer ist, der sich auch durch eigene Fehler nicht beirren lässt, dann sind sie vielleicht auch mal auf dem Weg dahin. Die Mitspieler können sich an ihm aufrichten.

Nach dem Tor schrie Kroos seine Freude laut hinaus, als kurz danach der Schlusspfiff ertönte, kniete er nieder und trommelte mit den Fäusten auf den Rasen. Es waren schöne Bilder. Denn der Eisschrank war gerade dabei, aufzutauen.