Pure Freude: Der Chilene Alexis Sanchez Foto: Getty

Deutschland, Frankreich und Holland, das sind die drei verbliebenen europäischen Schwergewichte bei der WM. Für Giovane Elber ist das Rennen um den Titel offener denn je – auch wenn er die lateinamerikanischen Teams im Vorteil sieht.

Deutschland, Frankreich und Holland, das sind die drei verbliebenen europäischen Schwergewichte bei der WM. Für Giovane Elber ist das Rennen um den Titel offener denn je – auch wenn er die lateinamerikanischen Teams im Vorteil sieht.

Stuttgart - Es gibt ja bereits Experten, die die WM in Brasilien als Copa America bezeichnen. Nach den teils überragenden Auftritten der Teams aus Süd- und Mittelamerika beim Turnier in Brasilien und dem Ausscheiden der europäischen Fußballmächte England, Italien und Spanien ist dieser Gedanke auch irgendwie nachvollziehbar – findet auch Giovane Elber (41). „Das wird hier schon so langsam zu einem Festspiel der Teams aus Lateinamerika“, sagt der ehemalige Stürmer des VfB, der bei der WM als TV-Experte tätig ist, „aber wirklich überrascht hat mich dieser Trend nicht.“

Dabei sind die Gründe der Latino-Fiesta vielschichtig – die meisten haben am Ende einen gemeinsamen Nenner: die pure Emotion.

Die Fans: Giovane Elber gewann in seiner Karriere die Champions League und den Weltpokal, er war brasilianischer Nationalspieler und kennt die Emotionen, die der Fußball auslösen kann. Doch das, was er in diesen Tagen in seinem Heimatland erlebt, ist ihm neu. „Es ist unglaublich“, sagt er, „wenn ein Team aus Lateinamerika ran muss, herrscht im Spielort der absolute Ausnahmezustand.“ Was Elber meint: Zu Zehntausenden reisen Argentinier, Kolumbianer oder Mexikaner ihren Teams hinterher. Ganze Städte versinken in den jeweiligen Landesfarben, und nicht nur im Stadion herrscht eine Gänsehaut-Atmosphäre. „Die Spieler merken, was in der Stadt los ist, wenn sie in die Arenen fahren“, sagt Elber, „schon das gibt ihnen einen Riesenschub. Und wenn sie dann noch miterleben, mit welcher Inbrunst und Lautstärke die Fans die Nationalhymnen singen, gibt ihnen das noch mehr Auftrieb.“ Lateinamerikaner seien emotionale Typen, ergänzt Elber: „Und sie lassen sich von den Gefühlen tragen.“

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Der Zusammenhalt : Es ist eine einfache Fußballer-Floskel – die süd- und mittelamerikanischen Teams füllen sie mit Leben: Einer für alle, alle für einen. „Teams wie Costa Rica oder Kolumbien setzen das perfekt um“, sagt Elber, „sie sind topfit und geben 90 Minuten lang Vollgas.“Dazu kommt eine extreme körperliche Präsenz. Mit dieser fast schon explosiven Mischung zwang zum Beispiel Chile die Spanier in die Knie.

Das Klima
: Die Rolle der Hitze und der Luftfeuchtigkeit wurde oft diskutiert, auch für Giovane Elber spielen die Bedingungen in Brasilien eine Hauptrolle. „Die süd- und mittelamerikanischen Teams spielen ihre Qualifikationspartien und die meisten Freundschaftsspiele oft mittags, wenn es heiß ist. Sie sind die Bedingungen besser gewohnt als europäische Mannschaften“, sagt er. Dazu kommen lange, teils strapaziöse Reisen zu den Spielorten – fertig ist der Mix, der die Europäer leiden lässt. „Die Lateinamerikaner sind das alles gewohnt, sie haben es im Blut“, sagt Elber.

Die taktische Reife:
Belgiens Trainer Marc Wilmots hat mit seinem Team nach zwei Spieltagen das Achtelfinale erreicht – möglicherweise auch, weil in der Gruppe H keine südamerikanische Mannschaft vertreten ist. Wilmots sagt, „dass diese Teams eine schnellere Reaktionszeit auf dem Platz haben und mit einem guten Umschaltspiel überzeugen“. Wilmots’ Kollege Jorge Luis Pinto, der Trainer Costa Ricas, meint, dass der Fußball Lateinamerikas dem europäischen in nichts nachstehe. Fakt ist: Taktisch hinken die Südamerikaner den Europäern nicht mehr hinterher. „Und beim Turnier in Brasilien sind sie sogar im Vorteil, weil sie ihr Konzept noch besser an die ihnen bekannten klimatischen Bedingungen anpassen können“, meint Giovane Elber.

Und die Europäer? Die versinken teilweise in der Euro-Krise und schreiben ihre eigene Geschichte. England schied mal wieder aus, weil es auch bei diesem Turnier an altbekannten Problemen litt – die heimische Premier League wird von ausländischen Profis geprägt, es rücken zu wenige Talente nach, und obendrein fehlt ein Konzept, wie diese Problematik behoben werden kann. Die Folge ist ein altbackener, uninspirierter Fußball, der in Brasilien an seine Grenzen stieß.

Bei den Italienern bewahrheitete sich das, was viele Experten bereits befürchteten. Das Spiel war zu sehr auf Mittelfeldmann Andrea Pirlo und Angreifer Mario Balotelli zugeschnitten, die Auftritte waren zu berechenbar, zudem fehlte das Tempo – was man auch über das Spiel der Spanier sagen kann. Die Alles-Gewinner der vergangenen Jahre wirkten müde, es fehlte der letzte Tick an Willen. Dennoch ist mit ihnen weiter zu rechnen – allein schon deshalb, weil im Gegensatz zu den Engländern eine ganze Armada hochtalentierter Spieler aus den Jugend-Nationalteams bereit steht.

Beim Turnier in Brasilien spielen die Spanier wie die Engländer und Italiener keine Rolle mehr. Der Fokus liegt nun auf den drei verbliebenen europäischen Schwergewichten, denen Elber neben den südamerikanischen Teams den großen Wurf zutraut. „Mit Frankreich, Holland und Deutschland ist zu rechnen“, sagt er. Frankreich hat eine junge, willige Mannschaft, die heiß darauf ist, sich nach dem peinlichen Auftritt von vor vier Jahren samt Vorrunden-Aus zu rehabilitieren. Beim holländischen Team stimmt die Mischung aus Jung und Alt, zudem schafft es Trainerfuchs Louis van Gaal bisher stets, die richtige Taktik vorzugeben. Und Deutschland? „Sie sind neben Argentinien mein Topfavorit auf den Titel“, sagt Giovane Elber.

Klar ist, dass Europa im Kampf um die Fußball-Krone längst nicht aus dem Rennen ist. Für diese Erkenntnis reicht ein Blick zurück. Vor vier Jahren, bei der WM in Südafrika, zogen fünf Südamerikaner und zwei mittelamerikanische Teams ins Achtelfinale ein. Europa war von seiner Bestmarke von zehn Teams beim Turnier 2006 mit nur sechs Teilnehmern weit entfernt. Am Ende wurde Spanien Weltmeister vor den Niederlanden, Deutschland wurde Dritter – und die alte Ordnung war wieder hergestellt. „Auch in Brasilien“, sagt Elber, „ ist alles möglich.“