Jens Rabe ist Rechtsanwalt für fünf Opferfamilien des Amoklaufs in Winnenden. Er fordert nach der Durchsicht des Gutachtens über den Täter ein öffentliches Verfahren gegen dessen Vater.

Winnenden - Jens Rabe ist Rechtsanwalt für fünf Opferfamilien des Amoklaufs vom 11. März dieses Jahres in Winnenden. Der Jurist sieht nach der Durchsicht des Gutachtens über den Täter eine klare Notwendigkeit für ein öffentliches Verfahren gegen dessen Vater.

Herr Rabe, wie bewerten Sie das jetzt Ihnen vorliegende Gutachten zum Amoktäter?

Nach den mir bislang vorliegenden Informationen war für mich eine psychische Erkrankung des Tim K. und eine Mitverantwortung des Vaters am Amoklauf naheliegend. Jetzt bestätigt das Gutachten diese Vermutung. Dennoch, die deutlichen Worte in Bezug auf die Mitverantwortung des Vaters hatte ich so nicht erwartet.

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Reicht ein Strafbefehl, oder muss es eine öffentliche Verhandlung geben?

Für die von mir betreuten Opferfamilien ist der Bedarf an Aufklärung groß. Hierzu gehört eine Gerichtsverhandlung, die bei der inneren Auseinandersetzung mit dem Geschehenen hilfreich sein kann. Hinzu kommt Folgendes: Es gibt neben den Verletzten, den Getöteten und deren Familien noch viele weitere von dem Leid des Amoklaufs Betroffene, wie zum Beispiel Mitschüler, Lehrer und Einsatzkräfte. All diese Personen haben kein Recht, von der Staatsanwaltschaft Informationen einzufordern. Ich denke, es ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft, durch ein öffentliches Verfahren auch diesen Betroffenen gerecht zu werden. Ein Strafbefehl, verbunden mit den bisherigen Presseerklärungen, reicht hierfür sicherlich nicht aus.

Ein anderer Anwalt von Opferfamilien hat sich dahingehend geäußert, dass die Staatsanwaltschaft lieber einen Strafbefehl hätte und eine öffentliche Verhandlung vermeiden will, weil sonst "weitere Polizeipannen offenbart" würden. Wie sehen Sie das?

Diese Kritik entbehrt bislang der Substanz und geht ins Blaue. Der Kollege scheint ja selbst nicht zu wissen, wo die Polizeipannen liegen, sonst hätte er diese sicher schon konkret benannt.

Welche Verantwortung haben die Eltern von Tim K.? Killerspiele, Horrorfilme - hätten sie früher eingreifen müssen?

Das Gutachten wirft den Eltern tatsächlich vor, die Augen verschlossen zu haben. Die Eltern von Tim K. dagegen sind der Meinung, im Umgang mit ihrem Sohn sei alles mehr oder weniger "normal" verlaufen. Letztendlich wird an diesem Punkt auch wieder deutlich, dass eine Gerichtsverhandlung notwendig ist, um eine eindeutige Klärung zu schaffen.

Die Polizei ist angeblich nicht zufrieden mit der Expertise. Teilweise seien im Gutachten "Feststellungen, Schlussfolgerungen und Hypothesen aufgestellt worden, die objektiv von den im Ermittlungsbericht dargestellten Ergebnissen abweichen", heißt es.

Ich kenne diese Kritik. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass die Polizei die Expertise im Allgemeinen kritisiert. Vielleicht beurteilt die Polizei Einzelheiten anders als der Psychiater. Über die Kernaussage des Gutachtens dürfte jedoch Einigkeit bestehen: Der Vater hätte die Gefährlichkeit seines Sohns erkennen und entsprechend handeln müssen. Das hat er nicht getan. Hierin liegt sein Versagen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizei dies anders sieht.

Eine vielleicht etwas bösartige Frage: Handelt es sich hier eventuell um einen Stellvertreterkrieg? Den Sohn kann man nicht mehr belangen, deshalb versucht man sich den Vater vorzuknöpfen?

Die Frage ist tatsächlich bösartig. Sie unterstellen den Angehörigen nämlich, nicht zwischen der Schuld des Tim K. und der Mitverantwortung des Vaters unterscheiden zu können. Das können die Eltern jedoch sehr wohl. Tim K. ist der Mörder. Bei dem Vater geht es um ganz andere Fragen: Wie gestaltete sich der Umgang in der Familie mit Tim? Wurde auf den Jungen emotional eingegangen? Wann und wie haben die Eltern die psychischen Probleme des Tim K. wahrgenommen? Haben sie entsprechend reagiert? Ich denke, ein Gerichtsverfahren wäre für beide Seiten eine Chance, mit ihren Standpunkten gehört zu werden, um dann den Blick wieder besser in die Zukunft richten zu können. Es geht um Aufklärung, nicht um Bestrafung.