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Der Vater des Amokschützen von Winnenden und Wendlingen muss sich ein zweites Mal einem Strafprozess stellen. Oder besser gesagt: Er darf. Schließlich hatte er das erste Urteil in der Revision angefochten.

Stuttgart - Es ist der 11. März 2009, morgens gegen 8 Uhr. Tim K. sitzt gut gelaunt im Schlafanzug am Frühstückstisch im schmucken Haus seiner Eltern im kleinen Ort Weiler zum Stein, der zur Gemeinde Leutenbach im Rems-Murr-Kreis gehört. Der 17-jährige Schüler trinkt Kakao und isst Kuchen. Kurz vor 9 Uhr macht er sich – wie immer mit seinem Rucksack – auf den Weg ins Berufskolleg. Das jedenfalls denkt seine Mutter, der an diesem Morgen nichts Ungewöhnliches an ihrem Sohn aufgefallen ist. Doch Tim K. hat ein anderes Ziel: Er will töten.

Was dann geschieht, stürzt die ganze Region in tiefe Verzweiflung, bundesweit herrscht Bestürzung. Tim K. hat seinen Plan in die Tat umgesetzt. Er ist zum Massenmörder geworden.

Der unscheinbare Jugendliche fährt mit dem Bus zu seiner ehemaligen Schule in Winnenden. In der Jungentoilette lädt er eine Neun-Millimeter-Beretta, geht in den ersten Stock in den Klassenraum 305, wo er das Feuer auf die Schülerinnen und Schüler eröffnet, die dort Deutschunterricht haben. Seine blutige Spur führt durch den Garten der nahen Psychiatrie bis in ein Autohaus in Wendlingen. Am Ende hat Tim K. 15 Menschen erschossen und 14 schwer verletzt. Um 12.25 Uhr schießt er sich hinter dem Autohaus eine Kugel in den Kopf. Insgesamt hat der jugendliche Mörder an diesem Vormittag 113 Schüsse abgegeben. Mit einer Pistole, die er aus dem unverschlossenen Schlafzimmerschrank seines Vaters geholt hat. Auch die Munition stammt von seinem Vater Jörg K., einem passionierten Sportschützen. Deshalb wird dem 53-jährigen Unternehmer von Mittwoch an zum zweiten Mal der Prozess gemacht. Ein Novum. Bisher gab es in Deutschland kein Verfahren gegen einen Angehörigen eines Amokschützen.

Das Versagen des Vaters

Am Ende des ersten Prozesses hatte die 18. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart Jörg K. am 10. Februar dieses Jahres zu einem Jahr und neun Monaten Gefängnis, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt – wegen fahrlässiger Tötung in 15 und fahrlässiger Körperverletzung in 14 Fällen sowie wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz. „Ohne das komplette Versagen des Angeklagten wäre der Amoklauf nicht möglich gewesen“, sagte Vorsitzender Richter Reiner Skujat in seiner mündlichen Urteilsbegründung.

Das Versagen des Vaters: Zwei Jahre lang hatte er die Beretta unverschlossen im Kleiderschrank verwahrt – genügend Zeit für seinen Sohn, die Pistole aufzuspüren. Auch mit der Munition war der Vater schlampig umgegangen. Wie sonst hätte Tim K. so viele Patronen horten können? Sage und schreibe 285 hatte er am Tag des fürchterlichen Amoklaufs bei sich.

Noch gravierender war die Blindheit den seelischen Nöten des 17-Jährigen gegenüber. Tim K. hatte bei Therapeuten der Jugendpsychiatrie Weinsberg fünf Sitzungen absolviert. Dort soll er von einem Hass auf die Menschen und von Tötungsfantasien erzählt haben. Davon habe der Vater gewusst, so die Richter damals. Statt die Behandlung wie empfohlen fortzusetzen, erlaubten die Eltern ihrem Sohn, die Sitzungen abzubrechen. Stattdessen nahm Jörg K. seinen Filius mit auf den Schießstand.

Die Schwester jedenfalls wusste Bescheid. In Internet-Chats schrieb sie über ihren Bruder Tim: „In seinen Augen kann man sehen, wie zerbrochen er ist.“ Er sei ein Problemkind, habe Depressionen und ziehe sich immer mehr zurück.

Was ist der Hintergrund der Revision?

Jörg K. hat gegen das Urteil erfolgreich Revision eingelegt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat das Verfahren ans Landgericht Stuttgart zurückverwiesen, weil die Verteidigung, bestehend aus den Anwälten Hans Steffan und Hubert Gorka, im Prozess eine wichtige Zeugin nicht hatten befragen können. Dabei handelte es sich um eine Frau, die die Familie des Tim K. nach dessen schrecklichem Tun ehrenamtlich betreut hatte. Die Frau hatte erst ausgesagt, Jörg K. habe von den Tötungsfantasien seines Sohnes gewusst. Dann, am zweiten Vernehmungstag, widerrief sie ihre erste Aussage. Am dritten Tag bestätigte sie kurz ihre erste Einlassung und berief sich dann auf ihr Aussageverweigerungsrecht, das ihr die Kammer auch zubilligte. Just diesen Umstand sieht der BGH als rechtsfehlerhaft an. Die Verteidiger hätten die Frau befragen können müssen, so der 1. Strafsenat. Die Betreuerin habe kein Aussageverweigerungsrecht gehabt, obwohl ihr der Oberstaatsanwalt ein Verfahren wegen versuchter Strafvereitelung angedroht hatte. Dieses Verfahren ist inzwischen wegen geringer Schuld eingestellt worden.

Die Sache ist mitnichten so klar, wie sie der BGH darstellt. Verschiedene hochrangige Juristen geben dem Vorsitzenden Richter Reiner Skujat in dessen Sicht, die Aussageverweigerung der Betreuerin betreffend, bis heute recht. Aber der BGH hat das letzte Wort. Es wird gemutmaßt, der 1. Senat habe vermeiden wollen, dass die Verteidigung des Jörg K. vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zieht.

Was aber ist der Hintergrund der Revision? Schließlich war Jörg K., der im ersten Prozess konsequent geschwiegen hatte, mit der Bewährungsstrafe auf den ersten Blick gut weggekommen. „Unsere Erwartung ist, dass unser Mandant lediglich wegen eines Waffendelikts verurteilt wird“, sagt Verteidiger Hans Steffan. Was er nicht sagt, was aber offensichtlich ist: Mit einer rechtskräftigen Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung im Rücken rechnet sich Jörg K. wohl schlechtere Chancen in den anstehenden Schadenersatz- und Schmerzensgeldverfahren vor einer Zivilkammer aus.

Stadt Winnenden beabsichtigt, Jörg K. in Regress zu nehmen

Die Ansprüche der Verletzten und der Angehörigen der Opfer sind wahrscheinlich durch eine Versicherung des 53-jährigen Geschäftsmanns, der seine Firma seiner Frau überschrieben hat, abgedeckt. Aber allein die Stadt Winnenden beabsichtigt, Jörg K. mit 14 Millionen Euro in Regress zu nehmen. Diese Forderung erhebt die Stadt wegen der Umbaumaßnahmen an der Albertville-Realschule nach dem Amoklauf. Dazu kommen die Sozialversicherungsträger, die unter anderem Behandlungskosten in immenser Höhe fordern könnten, und die Polizei, die ihre Einsatzkosten in Rechnung stellen kann.

Von Mittwoch an ist die 7. Strafkammer mit der Neuauflage des Amokprozesses befasst. 15 Termine bis Ende Januar sind derzeit anberaumt. „Das ist ein Verfahren, das keiner braucht und keiner will“, sagt ein Prozessbeteiligter. Schon der erste Prozess sei unnötig gewesen. Tatsächlich hatte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Jörg K. mit einem Strafbefehl abhandeln wollen. Der Generalstaatsanwalt hatte jedoch darauf gedrängt, einen Prozess gegen den Vater des Amokschützen Tim K. zu führen.

„Da werden alte Wunden wieder aufgerissen“, sagt Anwalt Bernd Kiefer, der mit mehreren Kollegen Hinterbliebene der Opfer in der Nebenklage vertritt. Die Angehörigen seien ob der Entscheidung des BGH sehr verunsichert, so Kiefer. „Es herrschen große Verzweiflung, Verständnislosigkeit und auch eine gewisse Enttäuschung über die Justiz“, umreißt Kiefer die Stimmung unter den Familien, denen Tim K. geliebte Menschen genommen hat. Er stellt fest: „Das bezieht sich aber ausdrücklich nicht auf die 18. Strafkammer und auf Richter Skujat“, so Kiefer. Bei ihm hätten sich die Angehörigen der Opfer hervorragend aufgehoben gefühlt.

„Unser Mandant wird erscheinen“, stellt Verteidiger Steffan schon einmal klar. Im ersten Prozess hatte Jörg K., der mit seiner Familie unter falschem Namen an einem geheimen Ort lebt, wochenlang gefehlt. Der Angeklagte wird jedes Mal von einer Spezialeinheit der Polizei abgeholt und ins Gericht gebracht. Der Prozess wird unter strengen Sicherheitskontrollen stattfinden.