Ben ist zehn Jahre alt und schwer behindert. Seine Eltern stehen ziemlich alleine da mit der „Rund-um-die-Uhr-Versorgung“. Für Mama Sissy Binder ist das Wort Pflegenotstand nicht nur ein Begriff, sondern alltäglicher Wahnsinn.
Ben ist ein Kämpfer, einer der sich ans Leben klammert und allen negativen Prognosen zum Trotz in seinem Tempo Fortschritt macht. Der Zehnjährige kann sitzen, sich am Sofa hochziehen, auf dem Popo umherrutschen und seinen Elektro-Rollstuhl steuert er auch ganz allein. Als wäre das alles nicht schon unglaublich genug, spricht der schwer behinderte Junge auch immer öfter und versteht mehr. „Er bildet zunehmend ganze Sätze und ist unglaublich feinfühlig“, sagt seine Mama Sissy Binder und ist dankbar und glücklich über diese Entwicklungen.
Doch gleichzeitig weiß die 42-Jährige auch, was ihr Sohn alles nicht kann und wie oft am Tag sein Leben am seidenen Faden hängt. „Jeder Moment mit Ben könnte der letzte sein.“ Der Zehnjährige – er kam 15 Wochen zu früh auf die Welt und sitzt nach Hirnblutungen, Operationen und unzähligen Komplikationen körperlich und geistig stark eingeschränkt im Rollstuhl – und er leidet unter einer schweren Epilepsie.
Bis zu 100 Anfälle hat der Junge täglich. Dabei reichen die Symptome von kurzer Abwesenheit bis hin zu stärksten Krampfanfällen, Bewusstlosigkeit und Atemstillstand. Das bedeutet: Sissy Binder kann den Zehnjährigen, der noch zwei Schwestern hat, nicht aus den Augen lassen. Mal eben die Küche machen und durchschnaufen, wenn er spielt – Fehlanzeige. „Er gerät aus dem Nichts in eine lebensbedrohliche Situation. Wenn ich nicht da wäre, um ihm sein Medikament zu verabreichen, würde er keine Luft mehr kriegen und sterben. Einfach so, ganz leise“, sagt Sissy Binder, die oft den Notarzt rufen muss. „Ich bin dann so unter Adrenalin, dass ich nur funktioniere. Und die Geschwister stehen dabei und kriegen alles mit.“ Sie versucht, die Situationen mit ihren Töchtern aufzuarbeiten – wenn die Zeit es zwischen Pflege und Therapien zulässt.
Sissy Binder und ihr Mann stemmen die Versorgung allein
Denn sie und ihr Mann stemmen Bens Versorgung quasi allein. „Alles ist mit riesigen Hürden verbunden. Man muss erst wissen, an welche Stellen man sich wenden muss und welche Pflegetöpfe in Frage kommen. Und um die Anträge auszufüllen, braucht man auch fast ein Studium“, sagt Sissy Binder. Ben brauche speziell geschulte Kräfte, doch die seien rar. „Die Pflegedienste haben zu wenig Personal und Ben passt oft nicht ins Raster.“ Er habe durch seine lebensverkürzende Diagnose Anspruch auf einen Hospizplatz, sei aber eigentlich zu mobil, erklärt Sissy Binder und wird noch deutlicher: „Für uns ist das Wort Pflegenotstand kein Begriff, sondern alltäglicher Wahnsinn.“
So darf auch nicht die Krankenschwester ausfallen, die Ben in die Schule begleitet. Denn ohne die medizinische Betreuung darf der Zehnjährige nicht in die Fröbelschule, zu groß wäre das Risiko eines lebensbedrohlichen Notfalls. Das heißt im Umkehrschluss: Wenn seine Begleiterin ausfällt und die Schulkrankenschwester nicht einspringt, hat Sissy Binder Ben doch wieder komplett bei sich daheim. Sie klingt nicht mutlos, wenn sie darüber spricht und man merkt ihr auch nicht an, wie wenig sie wieder mal geschlafen hat. Aber wenn sie das Hauptproblem, nämlich den Pflegenotstand bei Kindern wie Ben formuliert, hört man die Verzweiflung dann doch heraus. Viele Pflegedienste reagierten gar nicht, man sei auf einer Warteliste, Probleme würden nicht thematisiert.
Der Pflegenotstand wird von der Politik ignoriert
Marcel Hauck, der Geschäftsführer der Pinoy Pflege GmbH in Fellbach, die außerklinische Intensivpflege bei Kindern und Jugendlichen im Kreis anbietet, möchte dagegen sehr wohl über die aus seiner Sicht mehr als schwierige Lage sprechen. Er gibt Sissy Binder recht und sagt: „Der Mangel an Fachkräften darf sich nicht auf die ohnehin schon schwer belasteten Familien auswirken.“ Der Pflegenotstand sei massiv und werde von der Politik ignoriert. „Die Hürden und Vorgaben müssen geringer werden. Fakt ist, allein mit deutschen Kräften funktioniert es nicht. Aber anstatt den Pflegediensten beim Anwerben ausländischer Kräfte zu helfen, machen die Behörden Schwierigkeiten und verschärfen die Situation“, sagt Hauck und sieht auch die Pflegedienste in der Verantwortung. „Warum wird da nicht mehr kooperiert und sich gegenseitig ausgeholfen? Falsche Abläufe gehen zulasten betroffener Familien.“
Also ist Sissy Binder auch nachts auf sich alleine gestellt. Ben ist dann oft an einen Monitor angeschlossen, damit die epileptischen Anfälle rechtzeitig bemerkt werden. Aber am liebsten will er sowieso nur ganz dicht an seine Mama gekuschelt oder am besten auf ihr drauf schlafen. „Er braucht die Nähe und ist oft sehr unruhig“, sagt Sissy Binder, die unterm Strich kaum noch Ruhe kriegt seit sie Ben pflegt. „Der Schlafmangel ist das Schlimmste. Und auch körperlich packt man es nicht. Ich bin gerade mal 1,60 Meter groß und muss Ben tragen. Mein Rücken ist kaputt.“
Die 42-Jährige kann wegen der Rund-um-die-Uhr-Pflege weder arbeiten noch einfach mal einen Kaffee trinken gehen. „Pflege macht einsam“, sagt die studierte Betriebswirtin deshalb auch, die nichts so sehr hasst, wie den Begriff „normal“, denn normal ist bei ihr schon lange nichts mehr. Sie geht jeden Tag weit über ihre Grenzen hinaus und weiß, dass sie nicht schlapp machen darf. „Wir wollen Ben auf jeden Fall bei uns daheim haben. Und es gebe Stand jetzt auch gar keinen Plan B. Also müssen wir hoffen, dass nichts Außerplanmäßiges passiert, denn was wäre dann mit Ben?“, fragt sich Sissy Binder, schaut ihren Sohn an und sagt: „Er musste schon so viel Schmerzen und Leid ertragen. Deshalb bin ich es ihm schuldig, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, sondern seine Geschichte zu erzählen und zu hoffen, dass sich irgendwann etwas ändert.“
Hilfe für Familie Binder
Unterstützung
Wer sich als Fachkraft in der außerklinischen Intensivpflege angesprochen fühlt und sich vorstellen könnte, der Familie zu helfen, kann sich unter sissy.binder@gmx.de bei der 42-Jährigen melden. Denkbar wäre auch ein geringer, aber konstanter Stundensatz, um beispielsweise die Familie an einem festen Tag ein wenig zu entlasten.