Winfried Kretschmann Foto: dpa

Der designierte Ministerpräsident Winfried Kretschmann über Stuttgart 21 und die Energiewende.

Stuttgart - Frühlingsstimmung im Büro des Wahlsiegers: Die Sonne scheint; auf dem Schreibtisch steht ein Strauß mit Flieder. Auch politisch grünt es in Baden-Württemberg. Alles bestens also aus Grünen-Sicht - wäre da nicht der Streit mit dem Koalitionspartner SPD um Stuttgart 21. Fragen an Winfried Kretschmann.

Herr Kretschmann, Sie haben eine Volksabstimmung zu Stuttgart 21 versprochen, wollen sie aber nicht durchführen, weil die Kriterien so streng sind, dass Sie befürchten zu unterliegen. Wie kommen Sie aus diesem Dilemma heraus?

Diesem Eindruck trete ich entschieden entgegen. Wir haben keine Angst davor, die Volksabstimmung zu verlieren. Vielmehr bekommen wir dann ein Problem, wenn die Mehrheit der Menschen sich gegen Stuttgart 21 ausspricht, das Ganze aber formal an der extrem hohen Hürde in der Verfassung scheitert. Das ist etwas ganz anderes.

Die SPD beharrt auf einer Volksabstimmung auf der Basis der Landesverfassung, wonach ein Drittel der Wahlberechtigten, also rund 2,5 Millionen Baden-Württemberger, zustimmen müssten . . .

Das Dilemma besteht darin, dass die gegenwärtige Verfassungslage ohne die CDU nicht verändert werden kann. Ich stelle aber in Frage, ob die jetzige Regelung einen befriedenden Charakter hat.

Ist es nach außen hin zu vermitteln, wenn man sagt: Wir wollen eine Volksabstimmung, aber mit möglichst wenig Volk, damit Chancengleichheit besteht?

Wir wollen ja nicht weniger Volk, sondern möglichst viel Volk bei Abstimmungen. Ich halte es da mit dem Perikles-Satz, wonach ein stiller Bürger kein guter Bürger ist. Wer Abstimmungen fernbleibt, nimmt an der Gestaltung des Gemeinwesens nicht teil.

Das Quorum bestand bereits als Sie im Wahlkampf "Volksabstimmung" plakatierten . . .

Dieses Problem haben wir zu spät thematisiert. Das ist gar keine Frage. Wir hätten sehr viel klarer herausarbeiten sollen, unter welchen Bedingungen eine Volksabstimmung sinnvoll ist.

Bereuen Sie es heute, dass Sie im vergangenen Jahr nicht auf den Vorschlag der CDU eingegangen sind, das Quorum von 33 auf 25 Prozent abzusenken?

Das hätten wir anders machen können. Die Entscheidung fiel aber vor dem Hintergrund der damaligen Situation.

Würden Ihnen 25 Prozent heute genügen?

Es wäre besser, als die jetzige Regelung. Aber auch 25 Prozent sind noch zu hoch. Überall dort, wo direkte Demokratie erfolgreich praktiziert wird, sind die Hürden sehr viel niedriger.


Was streben Sie an?

Eine Absenkung auf fünf Prozent, beim Volksbegehren. Bei der Volksabstimmung sollte es gar kein Quorum geben.

Warum haben die Grünen den Bürgern in dieser Frage nicht reinen Wein eingeschenkt. Waren Sie ein Getriebener der Proteste?

Wir haben den Bürgern stets reinen Wein eingeschenkt. Ich habe niemals versprochen, dass wir dieses Projekt verhindern. Wir können es nur versuchen, und das tun wir auch weiterhin.

Hilft Ihnen die ansonsten offenbar gute Verhandlungsatmosphäre über die Klippe Stuttgart 21 hinwegzukommen?

Wir werden diese Koalition nicht scheitern lassen. Das wäre nicht verantwortbar. Nach 58 Jahren CDU-Regierung hat das Volk einen Politikwechsel eingeleitet. So etwas darf man nicht aufs Spiel setzen. Es war immer klar, dass Stuttgart 21 ein Stolperstein in den Verhandlungen mit der SPD sein würde. Aber es gilt auch hier: Ein guter Stolperer fällt nicht hin.

Ist Ihnen die Verhinderung von Stuttgart 21 wichtiger als Grün-Rot?

Vor diese Alternative möchte ich mich nicht stellen lassen. Nach unserer Überzeugung wird sich zeigen, dass die Sollbruchstelle von 4,5 Milliarden Euro für den neuen Bahnhof überschritten wird.

Gehen Sie auch deshalb davon aus, weil Sie die Rahmenbedingungen für den Stresstest mitformulieren . . .

Eine zentrale Forderung von uns ist es, dass wir endlich in den Lenkungskreis reinkommen, der diese Rahmenbedingungen formuliert - und zwar schon jetzt und nicht erst, wenn wir regieren. Ich kann nicht verstehen, dass die Bahn sich hier sperrt. Mit dieser Geheimhaltungspolitik muss Schluss sein, sonst gelingt der Schritt in die Bürgergesellschaft nie. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahres besteht das Gebot der Transparenz.

Was aber, wenn die Bahn Sie nicht in den Lenkungsausschuss lässt? Das Unternehmen hat ja ein fundamentales Interesse daran, dass Stuttgart 21 gebaut und der Kostenrahmen beim Stresstest nicht gesprengt wird?

Die Bahn muss ein großes Interesse daran haben, dass die neue Landesregierung dabei ist. Denn wir werden spätestens dann intervenieren, wenn wir an der Regierung sind - auch wenn der Stresstest dann schon fortgeschritten ist. Das wird unter Umständen dazu führen, dass nochmals neu begonnen wird - unter neuen Rahmenbedingungen.


Läuft Ihre Strategie darauf hinaus, Stuttgart 21 über die Kostenfrage zu kippen, weil das Thema Volksabstimmung so verfahren ist?

Sagen wir so, die Frage der Kosten ist entscheidend; da können wir uns mit der SPD eher einigen. Wir verfolgen aber keine taktischen Spielchen. Es geht um die Sache. Wir haben in der mittelfristigen Finanzplanung eine Deckungslücke von acht Milliarden Euro. Am Geld stößt sich nun mal Vieles.

Können Sie sich vorstellen, dass ein grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann das Projekt Stuttgart 21 ausführt?

Das kann ich mir nur schwer vorstellen. Aber wenn man direkte Demokratie möchte, hat das Volk das letzte Wort.

Die Grünen tun mit einem Stimmenanteil von 25 Prozent so, als hätte das Volk gegen Stuttgart 21 entschieden. Gehen Sie mit dem Begriff Volk nicht leichtsinnig um?

Das Volk ist ein Begriff unserer Verfassungsordnung. Schon im Wort Demokratie kommt der erhabene Gedanke zum Ausdruck, dass das Volk herrscht. Dass diese Gedanken in der Praxis immer auch etwas Triviales haben, gehört zur Natur der Politik. Doch es ist unsere Aufgabe, sich an diese Ideale immer wieder ranzurobben. Nur wenn wir das tun und solche Gedanken wie Gemeinwohl oder das Ganze in die Debatte einbringen, ist gewährleistet, dass wir in der Politik nicht nur Kleinklein machen.

Verschiedentlich ist zu hören, die "natürliche" Koalition im Südwesten hieße nicht Grün-Rot, sondern Schwarz-Grün. Die CDU entmappuisiert sich gerade - ist ein schwarz-grünes Bündnis für Sie keine Option mehr?

Diese Option gab es unter Günther Oettinger. Die CDU hat sie damals nicht ergriffen - wir waren dazu bereit. Dann hat die Union mit der Laufzeitverlängerung einen historischen Fehler begangen. Es wäre aberwitzig jetzt auf Schwarz-Grün umzuschwenken. Die Katz isch dr Boom nuff.

Steht Ihrer Partei eine Zerreißprobe bevor, wenn Sie zu bürgerlich werden. In der Parteilinken rumort es bereits?

Wir führen jetzt zum ersten Mal eine Regierung in einem starken Industrieland. Das ist eine neue Herausforderung für unsere Partei. Wir müssen uns in Vielem neu sortieren. Das wird die Partei sicher verändern. Ich werde mich jetzt aber nicht in die Gefilde der Flügelkämpfe begeben.

Wie stark werden Sie auf die EnBW Einfluss nehmen, um eine Energiewende zu schaffen?

Wir werden natürlich die strategische Ausrichtung der EnBW mit entscheiden - einen anderen Grund gibt es ja gar nicht, als Staat an einem Unternehmen beteiligt zu sein.

Müssten Sie Mappus nicht auf Knien danken, dass Sie Gelegenheit bekommen, bei der EnBW mitzuentscheiden?

Nein, ich danke ihm da überhaupt nicht auf Knien. Unser Problem ist, dass der Kaufpreis für die EnBW-Aktien überhöht war. Das macht uns enorme Schwierigkeiten, weil der Zwang herrscht, dass die Dividende höher sein muss, als die Zinsen. Es ist ein harter Weg, das Unternehmen so umzubauen, dass es einen Zukunft hat. Immerhin geht es um 20 000 Arbeitsplätze.


Was kostet den Bürger der Umbau der Energieversorgung?

Die Energiepreise sind auch in der Vergangenheit immer gestiegen, doch klar ist: Es wird teurer, allerdings moderat. Wir müssen vor allem in den Netzbau investieren. Die Preise werden aber nicht explodieren. Das gehört zu den Bedingungen des Atomausstiegs. Ebenso klar ist, dass der Ausstieg nicht zu Atomstromimporten führen darf.

Die EnBW findet sich in der Buhmann-Rolle wieder. Daran können Sie kein Interesse haben. Wie wollen Sie das korrigieren?

Wir müssen jetzt erst einmal Ruhe in die Debatte bringen. Unser Ziel ist es, einen energiepolitischen Masterplan aufzustellen. Da muss die EnBW natürlich reinpassen.

Aber es gibt doch einen großen Image-Schaden rund im die EnBW ...

Das ist eine Folge des überstürzten Kaufs am Parlament vorbei. Das hat dieses Unternehmen ins Gerede gebracht. Natürlich ist klar: Ein Unternehmen mit einem Portfolio von 50 Prozent Atomstrom ist erst einmal in einer schwierigen Situation. Wenn die alten Reaktoren - wovon ich ausgehe - nicht mehr ans Netz gehen, dann sind wir schon mal einen erheblichen Schritt weiter in eine energiepolitische Zukunft.

Der Atomstrom-Anteil ermöglicht die hohe Dividende, auf die Sie angewiesen sind . . .

Wir werden jetzt eruieren müssen, wo die EnBW Gewinne macht. Aber natürlich ist es keine günstige Situation, wenn man ein Unternehmen auf Pump kauft und darauf angewiesen ist, dass die Dividenden höher sind als die Zinsen. Das ist das, wovon wir der schwäbischen Hausfrau nach der Finanzmarktkrise abgeraten haben.

Sie wollen Windenergie ausbauen. Wie wird sich das Landschaftsbild verändern?

Eine Veränderung ist unvermeidlich. Man kann Windräder ja nicht im Keller bauen. Aber vergessen wir nicht: Viel dramatischer wird der Klimawandel das Land verändern. Deshalb müssen wir Eingriffe in die Natur mit dieser Alternative abwägen. Ich bin noch nie davon ausgegangen, dass der Weg in die Sonnenwirtschaft immer nur politischen Sonnenschein bedeutet.

Die Sanierung des Haushalts ist eine Mammutaufgabe. Was kommt auf die Bürger zu?

Es gibt immer das Gute im Schlechten. Schlecht ist, dass wir so ein kinderarmes Land sind. Das hat aber den positiven Effekt, dass im Bereich der Bildung in dieser Legislaturperiode rechnerisch 10000 Lehrerstellen frei werden. Mit dieser demografischen Rendite können wir die Qualitätsverbesserung gegenfinanzieren, um erst dann auch an die Einsparung von Lehrerstellen zu gehen. Daneben werden wir natürlich auch Steuern erhöhen müssen. Anders ist die Haushaltssanierung nicht zu schaffen.

Was planen Sie konkret?

Die Grünen wollen die Grunderwerbssteuer um einen Prozentpunkt erhöhen. Der Ausbau der Bildung im frühkindlichen Bereich und der Kleinkindbetreuung bedeutet Mehrausgaben von 250 Millionen Euro jährlich. Das müssen wir gegenfinanzieren.


Nach ihrer Ankündigung, Lehrerstellen abzubauen, gab es heftige Kritik. Haben Sie das unterschätzt?

Nein, es ist einfach falsch angekommen. Die Schülerzahlen gehen bis 2020 um mehr als 200.000 zurück. Die dabei frei werdenden Lehrerstellen setzen wir zum überwiegenden Teil für die Qualitätsverbesserung ein. Damit kann man alle wichtigen Wünsche erfüllen - Ganztagsschulen, Krankheitsvertretung, kleinere Klassen.

Werden Sie die Regierung verkleinern?

Das war noch kein Thema. Man kann realistischerweise aber nicht davon ausgehen, dass Ministerien gestrichen werden.

Was hat sich für Sie seit der Wahl geändert?

Ich werde wichtig genommen.

Und wie gehen Sie damit um?

Ich versuche, mich einigermaßen gelassen in diese Rolle einzufügen.

Gelingt Ihnen das?

Ich hoffe es.

Sie zitieren häufig Hannah Arendt. Was bedeuten Vorbilder für Sie?

Wenn man Politik macht, muss man ein klares Koordinatensystem haben, sonst besteht die Gefahr des Überpragmatismus, und die Leute erkennen nicht mehr, wohin es gehen soll. Ich halte es aber für ganz entscheidend, dass man in der Politik weiß, wohin man will. Ohne eine klare Peilung oder eine große Vision passiert in der Politik nichts, was nicht auch ohne sie geschehen würde. Ich bin ein Politiker der kleinen Schritte, aber die Richtung muss erkennbar sein.

Haben Sie eine Vision fürs Land?

Ja, ich habe eine Vision: dass unser Wohlstandsmodell vereinbar ist mit dem Erhalt unserer Lebensgrundlagen. Wer, wenn nicht wir, eine der reichsten Industrieregionen, kann zeigen, dass Ökonomie und Ökologie in die gleiche Richtung gehen können.

Sie wohnen in Sigmaringen-Laiz. Werden Sie mit Ihrer Frau nach Stuttgart umziehen, in die Dienstvilla auf der Solitude?

Das wissen wir jetzt noch nicht. Ich habe die Villa noch nicht einmal gesehen. Aber ich werde Sie mir ansehen.

Bleibt noch Zeit für Ihren Kirchenchor?

Nein. Die privaten Dinge werden sich nun noch mehr verschlanken. Ich hoffe, dass ich wenigstens genügend freie Sonntage habe, um mit meiner Frau auf der Schwäbischen Alb wandern zu gehen.

Ist Ihr Ostersonntag frei?

Der ist frei. Ostern ist mein liebstes Kirchenfest, weil es im Gegensatz zu Weihnachten nicht kommerzialisiert ist und der eigentliche Sinn noch im Mittelpunkt steht: Die Hoffnung auf Auferstehung im Jenseits und immer wieder auch hier und jetzt, wenn Menschen am Boden liegen.