Winfried Kretschmann im Gespräch mit dem Esslinger Büroleiter Kai Holoch Foto: udel

Ein gut gelaunter und ungezwungener Ministerpräsident hat im Rahmen der Veranstaltungsreihe StZ im Gespräch in Esslingen“ am Mittwoch vor allem über den privaten Winfried Kretschmann gesprochen.

Esslingen - Dass er langsam spreche, sei ihm erst als Ministerpräsident aufgefallen, sagt Winfried Kretschmann bedächtig. Aber es ist nicht so, dass in den Pausen zwischen seinen Worten so etwas wie Leere fühlbar wäre. Im Gegenteil, sie sind mit Gedanken ausgefüllt, die man geradezu greifen zu können glaubt. Kretschmann, 67 Jahre alt, geht in dem Amt des Ministerpräsidenten genauso stark auf, wie er es durchdenkt. Nur, dass die Reflexionen ihn nicht zu Zweifeln führen, sondern zu klaren Haltungen, wie er es nennt.

Nicht Zweifler zu sein, sondern Macher – das ist die Rolle, die er sich auferlegt hat, seit er 2011 der erste grüne Ministerpräsidenten Deutschlands wurde. So wie er jetzt als Ministerpräsident geradezu charismatisch wirkt, hat er einst die Rolle des Oppositionsführers gegeben und zehn Jahre lang alles angezweifelt, was von der Regierung vorgeschlagen wurde. Als er das sagt, lacht er und fügt hinzu: „Bis heute habe ich die Zeitschrift ,Scheidewege – Jahresschrift für skeptisches Denken’ abonniert.“

Mit Zuversicht die Flüchtlingskrise meistern

Der Abend in der Esslinger Redaktion vor 80 Zuhörern mit dem StZ-Büroleiter Kai Holoch als Conférencier war vor allem heiter. Der Witz Winfried Kretschmanns beruht auf dem Understatement, das er beherrscht wie kein Zweiter. In diesem „Werkstatt-Gespräch“, wie es Joachim Dorfs, der StZ-Chefredakteur, nannte, ging es vor allem um die Gedanken-Werkstatt im Kopf Kretschmanns. Kein Plan in der Flüchtlingskrise? „Den gibt es nicht, den hat niemand. Es gab bei der Wiedervereinigung auch keinen Plan“, sagt der Ministerpräsident. „Aber dass wir sie gemeistert haben, gibt uns die Zuversicht, dass wir auch die Flüchtlingskrise meistern.“ Verbot der Gesichtsverschleierung? „Es sind zu wenige, die das in Deutschland tun, als dass sich ein Gesetz lohnte.“ Streichung von Lehrerstellen? „Wir mussten einen Haushalt sanieren, und die Schülerzahlen waren rückläufig.“ Stuttgart 21? „Zu meinem Leidwesen hat sich das Volk dafür entschieden.“

In vielen Punkten denkt er nicht taktisch

Den Fragen des Publikums und seines Gesprächspartners Kai Holoch stellt er meist ein lapidares nacktes „Ja!“, ein „Nein!“ oder ein „Völlig sicher!“ entgegen. Dann weidet er sich einen Moment lang am Erstaunen des Publikums, das deutliche Aussagen von Politikern nicht gewohnt ist, nutzt die Atempause zum Überlegen und holt zu fundierten und ausführlichen Erläuterungen aus. In vielen Punkten denke er nicht taktisch, das gibt er offen zu. Er erklärt mehrmals, dass er die Haltung der Kanzlerin in vielen Punkten gut nachvollziehen könne. Vom Koalitionspartner SPD ist nie die Rede, nicht mal in den sprechenden Pausen zwischen seinen Worten.

Kai Holoch stellte immer wieder Fragen über Kretschmanns katholische Prägung. Sie gehört zu dessen Heimat auf der Spaichinger Alb wie Schnee, die Kirchtürme und die karge kuppige Landschaft. Da gab es den Dorfschmied im Nachbarhaus, den das Kind an der funkensprühenden Esse beobachtete; da gab es die Mutter, der man besser aus dem Weg ging, wenn sie schlecht gelaunt war; und dann gab es eben den Pfarrer, der seine Eltern dazu bringen wollte, den Buben doch Priester werden zu lassen. So kam der kleine Winfried in ein katholisches Internat nach Riedlingen. Im Kreis saß man um den Lehrer, der jedes Mal, wenn man ein lateinisches Verb falsch konjugierte, mit dem Stock zuschlug.

Mit Tunnelblick in einer linken Sekte gelandet

Wirbelte das Zweite Vatikanische Konzil Mitte der 60er die kirchliche Welt durcheinander, pusteten wenig später die 68er den Mief aus der deutschen Gesellschaft. Die Letzteren faszinierten Winfried Kretschmann unheimlich. Ihre Ideen sogen ihn vollständig auf, bis er geradezu mit Tunnelblick in einer „linken Sekte“ saß, wie er es jetzt nennt. „Ich stand mit der ,Kommunistischen Volkszeitung’ vor dem Index-Werk in Esslingen und hätte doch merken müssen, dass die niemand will“, erzählt Kretschmann.

Den Radikalenerlass und das Berufsverbot als Lehrer überstand er in einer privaten Kosmetikschule. Noch heute trifft er gelegentlich zwei seiner ehemaligen Schülerinnen beim Südwestrundfunk, wenn er für einen Fernsehauftritt die Nase gepudert bekommt. Die schönste Zeit seiner Lehrtätigkeit, sagt er, sei die am Esslinger Theodor-Heuss-Gymnasium gewesen, wo er zwei Leidenschaften gefrönt habe: unterrichten und Schüler beim Abschreiben erwischen. Er sah das durchaus sportlich – wie die Schüler das sahen, ist nicht überliefert. Etwas paradox fand es Kretschmann, dass die Schüler ausgerechnet im Fach Ethik betrogen: „Damit war mein Unterricht ja völlig umsonst!“

Man kriegt zwar einen Mann aus der Alb heraus, aber nicht die Alb aus einem Mann, und schon gar nicht aus Kretschmann. „Der weiße freundliche Stein“ sagt er, die ruhigen Wege, die er mit seiner Frau, aber auch mit Freunden wandere. Er kann sich später eine Vita contemplativa auf der Schwäbischen Alb vorstellen, wo er zweifeln und denken kann. Aber noch nicht jetzt. Denn dieser Abend war wohl auch dazu da, für den kommenden Wahlgang im März unmissverständlich klar zu machen: „Jetzt will ich es noch mal wissen.“