Wilhelm Tell (Gian Rupf) wird grundlos verhaftet von den Schergen des Vogts. Foto: Martin Sigmund

Das Alte Schauspielhaus hat Schillers „Wilhelm Tell“ für heutige Bedürfnisse zurechtgestuzt. So richtig geht der Plan aber nicht auf.

Stuttgart - Es gibt sie überall – Dummköpfe, Psychopathen und Sadisten, Aufschneider und Größenwahnsinnige. Einige von ihnen schaffen es auch immer wieder an die Macht, selbst wenn sie nicht am gesellschaftlichen Miteinander interessiert sind, sondern allein daran, ihre persönlichen Defizite zu kompensieren. Deshalb schert sich Herrmann Geßler auch nicht um die vielen Stimmen, die ihn beschwichtigen wollen, ihm hier sanft, dort lautstark ins Gewissen reden. Er, der Reichsvogt, hat es beschlossen: Wilhelm Tell soll den Apfel schießen, der auf dem Kopf seines Kindes platziert wird. Wenn Tell sein Ziel verfehlt, wäre es Geßler die größte Genugtuung.

Schurken gab es zu allen Zeiten. In Schillers „Wilhelm Tell“ haben sie die Bauern in der idyllischen Schweiz fest im Würgegriff. Im Alten Schauspielhaus führt die Reise allerdings nicht ins düstrere Mittelalter, sondern in einen modernen Saal, der verdächtig an heutige Plenarsäle erinnert. Klaus Hemmerle hat „Wilhelm Tell“ inszeniert und in die Gegenwart geholt. Mit Anzug, Aktentasche und bekümmertem Blick wirkt Andreas Klaue wie ein Landtagsabgeordneter, den die Sorge ums Volk umtreibt. Denn die Menschen sollen unterwürfig sein, sich nicht ihr eigenes Häuschen bauen dürfen. Deshalb beschließt der Großbauer: „Verbunden werden auch die Schwachen mächtig!“ Es muss etwas getan werden.

Die Schauspieler wechseln die Rollen – erst edel, dann ein Schurke

Es geht also um die Rechte des ganzen Volkes. Entsprechend hat Schiller eine stattliche Zahl an Figuren entwickelt, Bauern, Hirten und Handwerker aus Schwyz und dem Kanton Uri, Österreicher und Unterwaldener. Es gilt, das Volk zu mobilisieren und zu vereinen gegen den wütenden Landvogt. Stichwort Rütlischwur. Es ist nicht ganz einfach, sich in dieser schweizerischen Gemengelage zurechtzufinden, zumal im Alten Schauspielhaus einige Schauspieler mehrere Rollen übernehmen. Da ist Peter Kaghanovitch mit seinem monströsen Bart eben noch der milde alte Freiherr von Attinghausen – und marschiert plötzlich als Geßler auf, der die Menschen tyrannisiert.

Aber die Inszenierung von Klaus Hemmerle gibt sich eben bewusst als Theater zu erkennen, weshalb die Regieanweisungen auch von Verena Buss gesprochen werden. Schiller hat darin lustvoll die pralle Natur skizziert, die aufgehende Sonne über dem Eisgebirge, das „harmonische Geläut der Herdenglocken“ und immer wieder den Vierwaldstätter See in seiner ganzen Pracht. Es ist eine schöne Reise durch die Schweiz, die Schiller vom Schreibtisch aus ersonnen hat, sie führt auf saftige Wiesen und in nette Dörfchen.

Die Bühne im Alten Schauspielhaus wird etwas zu oft umgebaut

Im Alten Schauspielhaus dagegen werden die Bilder, die die Szenenanweisungen im Kopf evozieren, jäh gestört von handfester Kulissenschieberei. Denn schon bald wird die helle Holzwand (Ausstattung Ralph Zeger) zerlegt und dienen ihre schwarzen, kargen Rückseiten nun als Dekoration, die allerdings weder Atmosphäre erzeugt noch Orientierung gibt in diesem komplexen Drama mit zahlreichen Schauplätzen.

Klaus Hemmerle weiß freilich, dass die Schillerchen Textmassen für ein heutiges Publikum kaum mehr zu verdauen sind und Stücke im Alten Schauspielhaus ohnehin ins bewährte Format von 160 Minuten inklusive Pause passen müssen. Also wurde beherzt gestrichen und die Story auf ihren Kern reduziert. Es braucht eine Weile, bis die Erzählung in Gang kommt, man das große Personal halbwegs im Kopf sortiert und sich vor allem in die Schillersche Sprache eingehört hat. Kaum ist man in eine Szene eingetaucht, wird auch schon wieder umgebaut. Das kostet Zeit, die man lieber in ein paar zusätzliche Textpassagen investiert hätte.

Im zweiten Teil wird es spannender

Erst im zweiten Teil nimmt dieser Abend Fahrt auf, als in Tell die Wut keimt, dass er aufs eigene Kind schießen musste und deshalb den Landvogt aus Rache nun mit der Armbrust niederstreckt – Zitat: „Durch diese hohle Gasse muss er kommen.“ Gian Rupf ist eine gute Besetzung für diesen grüblerischen Volkshelden, auch wenn er wie manche seiner Kollegen die Verse recht schnoddrig artikuliert. Erfrischend ist Hemmerles Idee, ein Gutteil der Rollen mit Frauen zu besetzen, auch Tells Kind ist hier ein mutiges und waches Mädchen (Antonia Leichtle).

Insgesamt aber erzählt dieser „Wilhelm Tell“ ungewollt viel von den Schwierigkeiten, ein Drama dieses Ausmaßes heute auf die Bühne zu bringen für ein Publikum, das an schnelle Filmschnitte gewöhnt ist und nicht mehr das Sitzfleisch für Mammutinszenierungen mitbringt. Ein Drama wie „Wilhelm Tell“ ist letztlich zu eigenwillig, um sich den heutigen Bühnenerwartungen gefügig zu machen - selbst wenn es von Dummköpfen, Psychopathen und Größenwahnsinnigen handelt, derer es auch heute in der Weltpolitik viel zu viele gibt.