Meist wird dem Franzosen Blaise Pascal zugeschrieben, die erste mechanische Rechenmaschine erfunden zu haben. Dabei war der Tübinger Professor Wilhelm Schickard ein paar Jahre früher dran.
Eigentlich wollte Wilhelm Schickard seinem Freund, dem Astronomen Johannes Kepler, ein Exemplar seiner genialen Maschine zukommen lassen. Sie wäre ihm bei den komplizierten Berechnungen der Planetenbahnen mit Sicherheit eine Hilfe gewesen. Doch das gute Stück ging, noch bevor es fertiggestellt werden konnte, in der Werkstatt von Schickards Mechanicus Johann Pfister in Flammen auf.
Dass kein Original des Schickard’schen Rechenapparats die Jahrhunderte überstanden hat, dürfte dafür verantwortlich sein, dass es bis heute meist dem Franzosen Blaise Pascal zugeschrieben wird, 1642 die erste mechanische Rechenmaschine erfunden zu haben.
Schneller als der französische Konkurrent
Tatsächlich war der Tübinger Professor für Hebräisch, Mathematik und Astronomie schneller. Schickard schrieb 1623 in einem Brief an Kepler: „Auch habe ich dasselbe, was du rechnerisch getan hast, neulich mechanisch versucht und habe eine Maschine gebaut, die aus elf vollständigen und sechs verstümmelten Zahnrädchen besteht und die eingegebenen Zahlen sofort automatisch verrechnet, addiert, subtrahiert, multipliziert und dividiert.“
Der 1592 geborene Neffe des württembergischen Baumeisters Heinrich Schickhardt (damals mit h und t) beschreibt mit diesen Zeilen nicht weniger als die Erfindung des ersten mechanischen Rechners vor 400 Jahren.
Der Apparat ist eine lupenreine Zwei-Spezies-Rechenmaschine, ist also in der Lage, maschinell zu addieren und zu subtrahieren. Multiplikation und Dividieren lässt sich mithilfe der Maschine indirekt über Einmaleins-Tabellen, die in Form von Walzen in die Apparatur integriert sind.
„Pascals 19 Jahre später erfundene Maschine konnte nur addieren“, erklärt der Informatiker Herbert Klaeren, emeritierter Professor für Programmiersprachen am Wilhelm-Schickard-Institut für Informatik der Universität Tübingen. Klaeren hat am Institut 2005 ein kleines Computermuseum eingerichtet, in dem ein Nachbau der Schickard’schen „Rechenuhr“ ausgestellt ist. Daneben existieren Rekonstruktionen unter anderem im Tübinger Stadtmuseum oder dem Deutschen Museum in München.
„Erst in den 1950er Jahren gelang es dem Tübinger Philosophieprofessor Bruno Baron von Freytag-Löringhoff, die Maschine zu rekonstruieren“, berichtet Klaeren. Vorlage für die Rekonstruktion waren im Wesentlichen zwei Skizzen und einige kurze Erklärungen Schickards. Die ältere der beiden Zeichnungen aus dem Jahr 1623 findet sich in einem Notizbuch des Gelehrten.
Erstaunlicherweise blieb die Tatsache, dass Schickard damit einen ersten Vorläufer des modernen Computers konstruiert hat, fast 350 Jahre lang nahezu unbeachtet. Und das, obwohl seine Korrespondenz, in der er den Rechenapparat gegenüber seinem Freund erwähnt, bereits 1718 in einer Sammlung von Kepler-Briefen veröffentlicht wurde.
Der Tübinger Mathematikprofessor Johann Bohnenberger (1765–1831) kannte offenbar diese Briefe und brachte seinerzeit verwundert zu Papier, dass es merkwürdigerweise „gar nicht bekannt zu sein scheint, daß Schickard eine Rechenmaschine erfunden hat“. Auch ein 1899 veröffentlichter Artikel in einer Zeitschrift für Vermessungswesen, der Bohnenbergers Hinweis zitiert, blieb unbeachtet.
Die Wende brachte erst ein Vortrag, den der Stuttgarter Wissenschaftshistoriker und Bibliothekar der Württembergischen Landesbibliothek, Franz Hammer, 1957 im Mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach hielt.
Erst 1960 wurde die zerstörten Originale rekonstruiert
Freytag-Löringhoff hörte den Vortrag und war elektrisiert. Wenig später unternahm er Versuche, die Rechenmaschine zu rekonstruieren, was 1960 schließlich gelang.
„Du würdest hell auflachen, wenn du hier wärest und sehen könntest, wie sie die linken Stellen bei der Überschreitung des Zehners oder Hunderters von selber erhöht oder bei der Subtraktion ihnen etwas fortnimmt“, schrieb Schickard an Kepler.
Gemeint ist der automatische Zehnerübertrag, den die Rechenuhr maschinell bewältigt. Die Apparatur in der Größe eines Aktenkoffers umfasst zwei wesentliche Teile: einen unteren für Additionen und Subtraktionen, der aus sechs Zahnrädern mit den Ziffern 0 bis 9 sowie fünf dazwischenliegenden Übertragzahnrädern besteht. Und aus einem oberen Teil für Multiplikationen und Divisionen, einer Abwandlung der sogenannten Napier’schen Stäbe in Form von sechs drehbaren Zylindern.
„Der Übertrag ist zugleich der konstruktive Mangel an der Rechenmaschine“, erklärt Klaeren bei der Vorführung des Apparats im Tübinger Computermuseum. Die Maschine rechnet mit bis zu sechsstelligen Zahlen. Dabei müssen zuweilen mehrere Zahnräder des Zählwerks gleichzeitig bewegt werden, was ausgesprochen schwer ist. Werden die Zahnräder der Rechenuhr in Gang gesetzt, sind laute Klickgeräusche zu hören.
Anders als bei der Pascaline, wie die Rechenmaschine von Pascal genannt wird, kann man die Einstellräder des Addierwerks bei Schickards Apparat zur Subtraktion auch zurückdrehen. Ein ähnlicher Mechanismus wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts in sogenannten Scheibenaddierern noch einmal erfunden.
Schickard überlebt die Pestwelle nicht
Mutmaßlich baute Schickard nur zwei dieser Rechenmaschinen selbst oder ließ sie bauen. Eine für sich, eine für Kepler. Auch Schickards Exemplar überstand den Dreißigjährigen Krieg nicht. Als 1634 katholische Truppen nach der Schlacht von Nördlingen die Pest nach Tübingen trugen, musste Schickard miterleben, wie seine Frau und seine Töchter vom Schwarzen Tod hinweggerafft wurden.
Schickard wurde aufgefordert, die Stadt zu verlassen, doch der 43-Jährige weigerte sich. Er fürchtete um seinen Hausstand und seine Bibliothek. Im Herbst 1635 floh Schickard schließlich doch ins nahe Dußlingen. Zwei Wochen später kehrte er mit seinem Sohn zurück. Zu früh: Kurze Zeit später fielen auch Vater und Sohn der Pest zum Opfer. Mit Schickards Tod schwand zugleich auch die Erinnerung an die erste Rechenmaschine.