Jutta Ortlepp hat sich auf die Aufzucht von Zwergfledermäusen spezialisiert. Foto: Georg Friedel

Tiere erobern urbane Lebensräume und siedeln sich in der Stadt an. Auch Fledermäuse leben im Stuttgarter Norden. In der Serie „Wildtiere in der Stadt“ widmen wir uns diesem Thema.

Stuttgarter Norden - Die Sonne geht bald unter. Mit der Dämmerung kommen die Nachtschwärmer aus ihren Höhlen und Löchern. Kleine durch die Luft flatternde nachtaktive Gestalten tauchen in der blauen Stunde auf. Es sind wendige Flieger; sie jagen an warmen Sommerabenden blitzschnell nach Mücken, Spinnen und anderen Insekten, die sie per Ultraschall orten. „Eine Zwergfledermaus fängt pro Nacht 1000 Mücken“, sagt Jutta Ortlepp. Die nützlichen Insektenfresser existieren seit mehr als 50 Millionen Jahren: „Fledermäuse gehören zu den ältesten Säugetieren der Welt“, sagt die Fledermausexpertin aus Mühlhausen.

Allein in Baden-Württemberg leben 50 Arten, sie sind streng geschützt, und dennoch führen der Einsatz von Insektiziden, Nahrungsmangel und die Gefährdung ihrer Quartiere vielerorts zum Rückgang der Fledermauspopulationen. Jutta Ortlepp holt einen ihrer Pfleglinge aus der großen Voliere im Obergeschoss der Wohnung. Doch als die Aufzuchtexpertin, die selbst Tiermedizin studiert hat, den winzigen Flattermann in die Hand nehmen will, macht sich der akustisch bemerkbar und zeigt seine Zähne: „Jetzt schimpft er“, erläutert Ortlepp die Geräuschkulisse. Angefasst zu werden, mag er nicht. Das Zwergfledermaus-Männchen wiegt nur wenige Gramm und ist etwa fünf Zentimeter groß.

Jutta Ortlepp setzt den Däumling auf ihre Handfläche. „Jetzt pumpt er und fährt seinen Kreislauf hoch, um flugfähig zu werden“, sagt die Fledermaus-Expertin, die sich in der Arbeitsgemeinschaft Fledermausschutz Baden-Württemberg (AGF) (siehe Info) engagiert. „Die meisten unserer Fundtiere sind Zwergfledermäuse. Sie leben vorwiegend in den Stadtgebieten, in denen der Bestand an Altbauten hoch ist“, sagt Ortlepp. Zudem gibt es in Stuttgart die Abendsegler, eine etwas größere Fledermausart. Sie kommen hauptsächlich am Max-Eyth-See vor.

Wer ein Jungtier findet, kann sich bei der Arbeitsgemeinschaft Fledermausschutz melden

Gemeinsam mit ihrem Mann Torsten Schmiegel kümmert sich Jutta Ortlepp in Stuttgart ehrenamtlich um die Tiere. Oft rufen besorgte Menschen bei der AGF an, weil sie eine hilflose Fledermaus entdeckt haben. Wer ein Jungtier findet, sollte den Winzling erst einmal einsammeln und schützen. Als provisorischer Aufbewahrungsort genügt ein Schuhkarton mit Luftlöchern. Der Boden sollte mit Küchenkrepp ausgelegt werden. „In der prallen Sonne gehen die Tiere ein“, warnt Ortlepp. Sie sollten tagsüber ein schattiges und kühles Plätzchen bekommen. Mit einer Pipette kann man dem Findling lauwarme Wassertropfen anbieten. „Als Nächstes sollte man möglichst schnell den Notruf der AGF anrufen. Wir vermitteln dann einen Ansprechpartner“, sagt Ortlepp. Auch Tierheime können bei einem Fledermausfund weiterhelfen. Als AGF-Sachverständige betreiben Jutta Ortlepp und Torsten Schmiegel in Mühlhausen eine Art Fledermausambulanz für Stuttgart. Sie päppeln geschwächte Tiere in ihrer Wohnung auf und wildern sie in der Regel wieder aus. Tiere mit Flügelbruch oder anderen schwereren Erkrankungen gewähren die Aufzuchtexperten auch Asyl: „Eines unserer betreuten Tiere ist in der Pflege elf Jahre alt geworden“, sagt Ortlepp.

Die Dämmerung ist die beste Zeit, der suchenden Mutter ihren Säugling anzubieten

Ihr Spezialgebiet ist die Aufzucht und Rückführung von gestrandeten Fledermaus-Säuglingen. Die Jungtiere mit der Hand aufzuziehen, sei sehr schwierig. „Das Problem bei der künstlichen Aufzucht ist, die richtige Nahrungszusammensetzung zu finden“, erklärt Ortlepp. Erfolgversprechender ist, zurückgelassene Säuglinge wieder der Mutter zuzuführen. Doch das muss schnell gehen. Vergangenen Sommer wurde Ortlepp nach Botnang gerufen. Beim Abdecken eines renovierungsbedürftigen Garagendachs blieb eine etwa eine Woche alte Zwergfledermaus zurück. Ortlepp nahm den Säugling zu sich und brachte ihn noch am gleichen Abend an den Ort des Geschehens zurück. Kurz vor der Dämmerung ist die beste Zeit, das Jungtier der suchenden Mutter anzubieten. Dafür ist eine spezielle Konstruktion notwendig, die gut sichtbar aufgebaut werden sollte. Man nimmt eine Plastikwanne, setzt in die Wanne einen Eimer mit dem Boden nach oben, legt einen Lappen darüber und setzt den Fledermaussäugling darauf. Oft hole sich die Fledermausmutter dann ihr Junges zurück. Klappt die Rückholaktion nicht, kann dieselbe Prozedur am folgenden Abend wiederholt werden.

Auch aus dem Gefängnis werden Flattermänner befreit

Dass sich junge Fledermausgruppen jetzt im August und September auf der Suche nach Höhlen oder Hangplätzen verirren, ist nicht ungewöhnlich. Ein Tier fliegt durch ein gekipptes Fenster in eine Wohnung, es ruft seine Artgenossen und diese folgen ihm. Kommt der Bewohner nach Hause, flattert ihm ein ganzer Schwarm Fledermäuse entgegen. „Das erste, was man machen sollte, ist, die Fenster in der Wohnung zu öffnen, damit die Tiere wieder hinausfliegen können“, sagt Ortlepp. Manchmal fliegen hunderte Fledermäuse durch ein gekipptes Fenster und kommen nicht mehr heraus. Im Arbeitsgericht Stuttgart sei vor zwei Jahren ein solches Drama passiert. Von 200 Tieren konnten Schmiegel und Ortlepp lediglich 50 Tiere retten: „Wir haben sie nächtelang gefüttert und getränkt. Nach vier bis fünf Tagen waren sie wieder so weit, dass wir sie frei lassen konnten.“ Gerade im Sommer sollten Urlauber ihre Wohnungsfenster nicht kippen, wenn sie wegfahren. Wo viele Zwergfledermäuse unterwegs seien, sei ein Fliegengitter sinnvoll.

Sogar in die Justizvollzugsanstalt (JVA) Stammheim wurde Torsten Schmiegel zu einer Rettungsaktion gerufen. Tiere saßen im Gefängnis fest und hingen dort in einem höheren Raum an einer Decke: „Ich glaube, mein Mann war der einzige, der jemals die Sicherheitsschleusen der JVA mit einer Leiter passieren durfte“, sagt Jutta Ortlepp.