Die Konrad-Adenauer-Straße ist ein städtebaulicher K.o.-Schlag für das ganze Quartier links und rechts der Auto-Schlucht. Foto: Achim Zweygarth

Unsere Stadt hat mehr zu bieten als Feinstaub und Stau. Zu den städtebaulichen Todsünden zählt die Konrad-Adenauer-Straße. Die Opernsanierung bietet nun die einmalige Chance, dies zu ändern. Der Moderator Wieland Backes plädiert in seinem Gastbeitrag für mehr Mut zum großen Wurf.

Stuttgart - Wieder mal Feinstaubalarm – und wieder mal ohne nennenswerte Wirkung. Fast folgenlos, bereits zum x-ten Mal – zumindest was die gezählten Autos und die gemessenen Werte betrifft. Und trotzdem nicht ohne Effekt, wenn auch von verheerendem. Selbst in die Tagesschau haben wir es damit geschafft: Stuttgart, die Hauptstadt des Feinstaubs. Stuttgart die Stau-Hauptstadt. Noch nicht erholt von der leidigen Stuttgart-21-Debatte, ist ein weiterer problembeladener Topos fast schon zum Synonym für die Stadt im Kessel geworden. Niemand wird die Dringlichkeit des Themas ernsthaft in Zweifel ziehen. Aber: Eine Stadt lebt nicht vom Feinstaub allein – zumindest nicht, wenn es um die Stiftung von Identität für ihre Bürger und um eine Strahlwirkung nach außen geht. Und an diesem Punkt ist Stuttgart hochgradig defizitär.

Dabei sucht die Lage ihresgleichen: Manche sehen im eindrucksvollen Blick vom Birkenkopf – mit einem für Schwaben untypischen Hang zur Übertreibung – sogar eine Ähnlichkeit mit Rio, so, als läge irgendwo im Dunst hinter Cannstatt die Copacabana und der brausende Atlantik. Im Blick aus der Ferne hat Stuttgart das Zeug zum Kleinod, so wie es der dichtende Pfarrer Karl Gerok schon vor 150 Jahren schwärmerisch reimend attestierte: „Da liegst Du nun im Sonnenglanz, schön, wie ich eh dich sah, in Deiner Berge grünem Kranz, mein Stuttgart wieder da.“

Architektonische Katastrophen

Die „Großstadt zwischen Wald und Reben“ – welche Stadt verfügt schon über ein solches Alleinstellungsmerkmal? Die Ernüchterung kommt beim Nähertreten. Ja, wenn der Krieg nicht gewesen wäre! Natürlich lassen sich die Wunden dieser Jahre so wenig einfach wegretuschieren, wie die Verkehrsschneisen für die „autogerechte Stadt“, die in der Zeit des Wiederaufbaus gnadenlos geschlagen wurden. Aber 71 Jahre nach Kriegsende stellt sich noch immer die Frage: Wo ist in dieser Stadt das qualitätvolle Neue, das Identitätsstiftende, die Urbanität, die zum Flanieren und Verweilen einlädt?

Es ist allenthalben zu greifen, Stuttgarts Bürger sehnen sich nach einem ambitionierten Zukunftsbild ihrer Stadt. Stuttgart braucht dringend einestädtebauliche Vision, eine Vorstellung davon, wie und was es künftig sein will. Mit Ausnahme des Kunstmuseums und vielleicht des Hospitalhofs, findet sich im Zentrum kein einziges neueres Bauwerk, das unter diesem Aspekt als städtebaulicher Gewinn zu verbuchen wäre. Dafür haben architektonische Katastrophen in Gestalt zweier Shopping-Malls der Stadt weiteren Schaden zugefügt. Und die Wüstenei der S-21-Baustelle lässt die bange Frage aufkommen: Wie wird das hier wohl später einmal aussehen?

Ein zu düsteres Bild? Auch der Verfasser dieser Zeilen lebt schon seit bald fünf Jahrzehnten hier – nicht notgedrungen, sondern höchst freiwillig. Denn diese Stadt hat ja trotz aller in Beton gegossenen Verfehlungen einiges zu bieten. Aber es sind vor allem die kleinen Unverwechselbarkeiten, die Stuttgart liebenswert machen: Orte wie die Markthalle, das Teehaus im Park der Villa Weißenburg oder das Mineralbad Berg, dessen hoffentlich unverschandelte Wiedereröffnung von einer vieltausendköpfigen Bekennergemeinde dringend herbeigesehnt wird. Im Kleinen stark – aber wie steht es mit dem Großen?

„Kulturhauptstadt“ darf sich Stuttgart nennen, wie auch immer diese deutschlandweite Führungsrolle ermittelt wurde, sie trifft ins Schwarze. Von den Bühnen der Staatstheater, vom Theaterhaus, Literaturhaus über die Orchester, bis zu den Museen und vielen anderen Initiativen, es genügt den monatlichen Kulturreport der Stuttgarter Zeitungen aufzuschlagen um der kaum zu bewältigenden Fülle gewahr zu werden. Dass wieder einmal der Titel „Oper des Jahres“ errungen wurde, ist bestimmt nicht als Zufall einzuordnen.

Mit einer kleinen Lösung würde eine Jahrhundertgelegenheit verspielt

Aber gerade dort, wo die Behausungen der Hochkultur sich aneinanderreihen, Oper, Theater, Landesbibliothek, Staatsgalerie, Haus der Geschichte und bald auch das neue Stadtmuseum, zeigt die Mitte Stuttgarts ihr abweisendstes Gesicht: Die Kulturmeile hieße wohl besser PS-Meile. Die Schneise zwischen Neckartor und Österreichischem Platz ist trotz mancher kosmetischer Maßnahmen auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Fertigstellung die städtebauliche Todsünde der Landeshauptstadt: unwirtlich, trennend, ein K.o.-Schlag für das ganze Quartier links und rechts der Schlucht.

„Wie sind Sie denn auf die andere Straßenseite gekommen?“ – „Ich bin hier geboren“. Der alte Witz ist nicht ohne bitteren Beigeschmack und hat auch nach der Einrichtung einiger gut gemeinter Fußgängerüberwege nichts von seiner Nähe zur Realität verloren. Die Versuche dieses Thema anzupacken waren in den letzten Jahrzehnten zahlreich, aber sie erstickten immer wieder in kollektiver Mutlosigkeit. Die Schneise ist offenbar Stuttgarts städtebauliches Schicksal. Oder gibt es am Ende doch eine Lösung, die endlich zusammenführt, was zusammen gehört?

Es gibt diese Chance, und wenn nicht jetzt, wann dann? Und der Aufhänger dafür könnte die allfällige Sanierung der Staatsoper sein. Geschätzte dreihundert bis vierhundert Millionen Euro müssen in die Hand genommen werden, um das hundert Jahre alte Opernhaus von Max Littmann auf heutiges Niveau zu bringen. Kein geringer Aufwand. Die Frage muss gestellt werden: Ist das nicht eine einmalige Gelegenheit, gleich die ganze Meile städtebaulich neu zu gestalten, zu einem wirklich urbanen Quartier – menschengerecht, nicht autogerecht, aber nachhaltig? Wenn jetzt wieder einmal nur die „kleine Lösung“ favorisiert würde, wäre eine Jahrhundertgelegenheit vertan.

Wohin man auch schaut, nach Frankfurt oder Köln, nach Berlin oder Hamburg: Viele deutsche Großstädte haben den Mehrwert einer attraktiven Mitte erkannt. Hamburg hat jetzt seine, wegen der explodierenden Kosten, einst vielgescholtene Elbphilharmonie eröffnet, voller Stolz und weltweiter Bewunderung. „Think big“ möchte man den Entscheidungsträgern zurufen. Es wird Zeit, den städtebaulichen Permafrost durch ein zukunftszugewandtes Frühlingserwachen abzulösen. Kompetente Leute aus dem Staatstheater und der Architekturszene haben längst aufgezeigt, wie das aussehen könnte.

Rückbau der Verkehrschneise

Wenn die Sanierung des Operngebäudes beginnt, brauchen die Ensembles von Oper und Ballett eine Interimsspielstätte für drei bis vier Spielzeiten. Die Kosten für ein Provisorium werden mit zwölf bis fünfzehn Millionen Euro veranschlagt – verlorenes Geld, wenn das Provisorium nachher wieder verschwinden soll. Die Intendanten wehren sich zurecht gegen eine Interimslösung fernab ihres Publikums mitten im Industriegebiet.

Viel nachhaltiger wäre der Bau einer, von der Musikszene geradezu herbeigesehnten, zweiten Konzerthalle, deren bester Standort ohne Zweifel zwischen Schauspielhaus und Schillerstraße läge. Hier hätten dann bis zum Abschluss der Sanierung Oper und Ballett ihren Platz. Das Bauvorhaben Konzerthalle wäre dann zugleich das Startsignal für den Umbau und Rückbau der Verkehrschneise in einen Stadtboulevard, der die linke mit der rechten Straßenseite versöhnt. Auch eine Tunnellösung ist längst nicht ausdiskutiert.

Ein neues zukunftweisendes Kapitel Stadtgeschichte könnte hier aufgeschlagen werden. Stuttgart steht vor der Chance, ein einmaliges und lebendiges Kulturquartier zu schaffen, das vom Kunstmuseum, über die Staatstheater bis zur Staatsgalerie reicht. Die Bürgerinnen und Bürger würden es danken. Diese Stadt braucht den großen Wurf. Think big Stuttgart!