Natalia Lamotte (links) mit ihren drei Kindern sowie ihrer Schwester Sarah Galan und deren Kind. Foto: Lamotte/Lamotte

Frauen brauchen mehrere Jahre, um mit den Veränderungen zurecht zu kommen, die das Mutterwerden mit sich bringt. Doch kaum einer weiß, dass es diese „Muttertät“ gibt – und dass sie oft ähnlich turbulent und emotional abläuft wie die Pubertät.

Ihr kleines Baby schaut sie mit wachen Knopfaugen an und Natalia Lamotte verspürt eine unglaubliche Wut im Bauch. Längst sollte das Kind schlafen, es ist spät, sie ist müde und hat noch so viele andere Dinge zu erledigen. Zum Heulen, Schreien, Haareraufen ist das. Dann plötzlich fallen die kleinen Augen doch zu, friedliche Atemzüge sind zu hören und Natalia ist sich sicher: „Ich will noch 20 Babys haben.“

Das ist jetzt acht Jahre und drei Geburten her. Aber diese sehr intensiven, sich oft widersprechenden Gefühle, die sich nur schwer kontrollieren lassen und die frühen Jahre mit ihrem ersten Kind prägten, die sind bei Natalia Lamotte, 38 Jahre, bis heute sehr präsent. „Ich kam nicht mit mir und all diesen Veränderungen in meinem Leben klar. Ich fühlte mich als Mutter schlecht und falsch.“ Sie suchte einen Therapeuten auf, doch ihre Hoffnung auf irgendeine Diagnose wurde enttäuscht. „Alles in Ordnung mit ihnen“, hieß es.

Eine Mutter zu sein ist ein Prozess

Und letztlich stimmte das auch. Natalia Lamotte war einfach nur Mutter geworden. Doch wie die meisten Frauen hatte sie sich auf Schwangerschaft und Geburt vorbereitet, nicht aber auf das, was danach kommt: auf die Mutterrolle. „Alle denken, sobald man sein Baby auf dem Arm hat, ist man eine Mutter. Aber dieser Prozess, sich in die neue Rolle einzufinden, kann locker drei Jahre dauern.“

„Muttertät“ nennt Natalia Lamotte, die zusammen mit ihrer Schwester Sarah Galan in München als Doula, also Geburtsbegleiterin, arbeitet, diese Zeit. Im englischsprachigen Raum gibt es schon länger den Begriff „Matrescence“ für diese Entwicklungsphase. „Als ich darauf gestoßen bin, war ich sehr erleichtert. Ich wusste endlich: Mein Gefühlschaos ist normal und nicht mein individuelles Problem.“

Der von ihr gewählte Begriff „Muttertät“ ist bewusst angelehnt an die Pubertät, weil es sich um eine ähnliche Übergangsphase handelt. „Zumindest während Schwangerschaft und Geburt sind auch hier sehr viele Hormone mit im Spiel“, sagt Natalia Lamotte. Es verändert sich der Körper, die Beziehung zu den eigenen Eltern, zu Freunden, zum Partner, Prioritäten im Leben verschieben sich – auch das alles lässt sich während der Pubertät beobachten.

Ähnlich wie die Pubertät

Gemein haben beide Lebensabschnitte auch die Veränderung von Freiheiten und Verantwortung. „In der Pubertät löst man sich aus der Abhängigkeit von den Eltern, um ein unabhängiger Erwachsener zu werden. Beim Mutterwerden gibt man seine Unabhängigkeit auf, um für jemanden verantwortlich zu sein, der komplett abhängig ist“, sagt Natalia. Die Pubertät ist längst ein gesellschaftlich anerkannter Lebensabschnitt. Als man früher noch nicht so viel darüber wusste, was sich alles im Gehirn und Körper verändert, galten Jugendliche einfach als „verrückt“, erzählt sie. Heute versuchen Eltern und Lehrer, für die Besonderheiten dieses Lebensabschnitts Verständnis aufzubringen.

Ganz anders sehe es aus, wenn aus Frauen Mütter werden. Diese einschneidende, prägende und oft auch schwierige Übergangsphase existiert weder in den Köpfen der betroffenen Mütter noch in denen des gesellschaftlichen Umfelds. „In unserer Gesellschaft steht nach der Geburt vor allem das Baby im Mittelpunkt“, sagt Lamotte. Frauen bekommen während des Wochenbetts noch Unterstützung von Hebamme und Frauenarzt, um mit den körperlichen Veränderungen nach der Geburt zurechtzukommen. Es folgt die Rückbildungsgymnastik. „Und dann soll man ihr eigentlich nicht mehr ansehen, dass sie jetzt Mutter ist. Bei der Arbeit soll möglichst keiner etwas merken. Und das private Umfeld erwartet, dass man wieder so präsent und aktiv ist wie früher“, erzählt sie.

Umstrukturierung im Gehirn

Doch diese Ansprüche würden eines verkennen: Wie auch bei der Pubertät gibt es kein Zurück mehr in den vorherigen Lebensabschnitt. Die Veränderungen sind dauerhaft. Und das ist mittlerweile bereits wissenschaftlich ergründet: Ein Forscherteam aus Holland hat Bildaufnahmen (MRT-Scans) von Gehirnen von Müttern mit Nicht-Müttern verglichen: Die Veränderungen am Gehirn sind derart stark, dass der Computer anhand der Aufnahmen mit 100-prozentiger Sicherheit zwischen Müttern und Nicht-Müttern unterscheiden kann. Denn nach der Geburt werden alle Bereiche hochgefahren, die mit Fürsorge und Empathie zu tun haben – zulasten etwa des Kurzzeitgedächtnisses, denn die Gehirnkapazitäten sind begrenzt. Eine derart weitreichende Umstrukturierung im Gehirn macht der Mensch nur noch in einem weiteren Lebensabschnitt durch: der Pubertät.

„Ich würde mir wünschen, dass in jedem Geburtsvorbereitungskurs zumindest einmal angesprochen wird, dass die Geburt nur der Anfang ist. Dass es danach eine Phase der Umstellungen und Anpassungen geben wird und dass diese Phase Zeit und Verständnis des Umfelds braucht“, sagt Natalia Lamotte.

Dieses Wissen hätte sich auch Hanna Meyer (36) gewünscht, als sie vor zwei Jahren zum ersten Mal Mutter wurde. Bis dahin war sie spontan, liebte ihre Freiheiten, reiste viel. Dass sich das mit Kind verändern würde, war der Kriminologin, die in Berlin lebt, bewusst. „Das Ausmaß an Fremdbestimmung aber hätte ich mir nicht vorstellen können“, sagt sie. „Wie es sich anfühlt, wenn man noch nicht einmal mehr allein ins Bad gehen kann beispielsweise.“ Meyer tauschte sich während dieser Zeit viel mit Svenja Krämer aus, wie sie eine Neu-Mutter, die auch oft verunsichert und ratlos war. Dann begegnete auch ihnen der Begriff „Muttertät“ und sie beschlossen, ein Buch darüber zu schreiben. „Wenn über Mütter geschrieben wird, dann geht es entweder um ihre körperliche Entwicklung und Krankheitsbilder, wie postpartale Depressionen, oder um das Verhalten der Mutter in Bezug auf das Kind“, sagt Hanna Meyer. „Nie geht es einfach nur um die Mutter.“

Was bedeutet „Muttertät“?

Muttertät
nennt sich die Übergangsphase, durch die jede Frau geht, die geboren hat. Der Begriff ist vom englischen „Matrescence“ abgeleitet und tauchte erstmals in den 70er-Jahren auf. Er geht auf die Anthropologin Dana Raphael zurück.