Die Digitalisierung der Verwaltung ist eines der zentralen Projekte, die die Bundesregierung jetzt umsetzen muss. Foto: Patrick Pleul/dpa

Wird die Bundesregierung im angekündigten „Herbst der Reformen“ liefern? Dafür braucht es Mut auf der einen – und Verantwortung auf der anderen Seite, kommentiert unsere Autorin.

Würde man Deutschland in einem Bild darstellen, wäre eine Baustelle wohl eine treffende Darstellung. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat nicht ohne Grund einen „Herbst der Reformen“ ausgerufen. Rente und Sozialstaat sollen reformiert, das Gesundheitssystem auf solide Füße gestellt werden, noch im Oktober will das Kabinett eine Sitzung vorrangig den Themen Deregulierung und Entbürokratisierung widmen. Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche hat schon vor einer Woche skizziert, wie sie die Energiewende neu aufstellen will, damit die Systemkosten sinken.

 

Es sind keine kleinen Aufgaben, die sich Schwarz-Rot da vornimmt. Dass diese geräuschlos bearbeitet werden können, darf bezweifelt werden. Wenn der SPD-Chef Lars Klingbeil beispielsweise – zu Recht – die Frage aufwirft, warum er als Politiker nicht in das Rentensystem einzahlt, geht das auch an die Wurzeln der Altersvorsorgesysteme und die Frage, wer welche Privilegien behält.

Ohne Zumutungen wird Deutschland nicht zukunftsfest

Doch ohne grundlegende Veränderungen – und ja auch Zumutungen – wird sich das Land nicht nachhaltig zukunftsfest aufstellen lassen. Vor allem wenn es um Entbürokratisierung geht, muss Deutschland auch lernen, ohne doppelten Boden und mit Eigenverantwortung umzugehen. Wie schwer das dem ein oder anderen fällt, konnte man vergangene Woche wieder einmal beobachten.

Auf den Vorschlag von Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU), Apotheken mehr Kompetenzen zu geben, folgte der unvermeidliche Aufschrei der Ärzteschaft, die an anderer Stelle gern über Überlastung und Fachkräftemangel klagt. Dass es längst Dauerrezepte für Menschen gibt, die über längere Zeiträume Medikamente benötigen und Ärzte chronisch Kranken häufig auch ohne Kontakt Folgerezepte ausstellen – geschenkt.

Bürokratieabbau heißt Eigenverantwortung

Das Beispiel steht dafür, welches Problem die Deutschen mit Deregulierung haben. Es zeigt auch, dass viele sich zwar weniger Regeln wünschen, aber skeptisch werden, sobald es sie selbst betrifft. So aber funktioniert Bürokratieabbau nicht. Wer nach weniger Bürokratie ruft, muss bereit sein, selbst Verantwortung zu übernehmen und er muss sich damit zufrieden geben, dass nicht jeder Einzelfall bis ins Detail geregelt ist.

Wenn die Bundesregierung beispielsweise Berichtspflichten über die Einhaltung der Sorgfaltspflichten im Lieferkettengesetz abschaffen will, heißt das eben nicht, dass die Sorgfaltspflichten als solche entfallen, sondern lediglich die Verpflichtung, aufwendige Nachweise über deren Einhaltung zu führen.

Kosten für Bürokratie gehen in die Milliarden

Dabei sollte doch jeder und jedem von uns an weniger Regeln gelegen sein. Nicht nur um den Alltag einfacher zu machen. Das Ifo-Institut kam im vergangenen Jahr zu dem erschreckenden Befund, dass bürokratische Hürden Deutschland jedes Jahr direkt und indirekt 146 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung kosten. Wenn Bürokratie Investitionen verhindert, läuft etwas schief.

Das hat nicht allein die Bundesregierung zu verantworten. Ein Gros der Regeln, die der Wirtschaft das Leben schwer machen, sind in der EU geboren. Es ist deshalb nicht nur richtig, sondern längst überfällig, wenn die EU-Kommission jetzt konkrete Vereinfachungen plant und umsetzt.

Wer an dem Punkt spürbare Fortschritte erzielen will, muss einiges aushalten können. Denn klar ist: Wenn die Bundesregierung echte Veränderungen bewirken will, bracht sie Mut. Sie muss den Bürgerinnen und Bürgern Zumutungen zutrauen. Jeder spürt in seinem Alltag, dass es grundlegende Reformen braucht. Nach dieser Erkenntnis, wäre es grob fahrlässig und politisch hochgefährlich, diese nicht anzugehen.