Wie viel Ethik verträgt das Geschäft? Und wie viel Geschäft ruiniert die Ethik? Foto: dpa

Gibt es ethische Grenzen des Machbaren? Wohin grenzenloser Fortschritt und unbegrenztes Wachstum führen, ist für jeden, der seine Augen nicht vor der Realität verschließt, unverkennbar – in den Abgrund.

Stuttgart - Die Ökonomie dient der planvollen Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Je planvoller, geregelter und geordneter dies abläuft, desto besser für die Beteiligten – kleine und große Unternehmen, private und öffentliche Haushalte.

Wirtschaft ist wichtig, sehr wichtig, unentbehrlich sogar. Aber sie ist nicht allzuständig und kann nicht alles leisten. Sie braucht Grenzen und Schranken, Normen und Werte. Sie muss eingebettet sein in eine tragfähige Kultur des Gebens und Nehmens, eine soziale Ordnung, die rationalen Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens folgt.

„Oikonomia“ und „Homo oeconomicus“

Aristoteles. Foto: Picture Alliance
Für Aristoteles (382-322 v. Chr.), der der Ökonomie ihren Namen „Oikonomia“(Wirtschaft des ganzen Hauses) gab und sie als eigenständige Disziplin auf den Weg brachte, ist diese Einsicht grundlegend. Der griechische Philosoph versteht „Oikonomia“ im umfassenden Sinne als Gesellschaftslehre, die moralischen Prinzipien folgt.

Der „Homo oeconomicus“ steht nicht über dem „Homo politicus“, genauso wenig wie die Wirtschaft total einer politischen Ideologie unterworfen werden darf. Wohin dies führt, hat sich am Aufstieg und Fall des Sozialismus gezeigt. „Oíkos“ und „nomos“, Haus und Gesetz, bedingen einander, bauen aufeinander auf, greifen ineinander, ergänzen sich.

Selbstverständlich ist diese Sichtweise nicht, dass die Wirtschaft kein moralfreier Raum ist . Immer noch glauben einige, sie müsse sich ausschließlich an den Maßstäben der Effizienz und der Gewinnmaximierung orientieren, wie der katholische Sozialethiker Friedhelm Hengsbacherklärt.

„Dieser Meinungsstreit hat eine lange Geschichte. Die einen sagen, dass die Wirtschaft wie ein System funktioniert, in dem die Moral möglichst ausgeschaltet sein sollte. Moralische Interaktionen würden das Wirtschaftsleben nur unnötig stören. Die Welt der ökonomischen Tatsachen sei das eine, das Universum der Werte das andere. Beide haben nach dieser Theorie nichts oder nur wenig miteinander zu tun.“

Wirtschaft – eine wertfreie Zone?

Friedhelm Hengsbach. Foto: StZ

Die Wirtschaft als Realität „sui generis“ – eine eigene, abgeschlossene, wertfreie Zone. Kann das funktionieren? Nein, sagt der 79-jährige Jesuitenpater, der von 1985 bis zu seiner Emeritierung 2005 als Professor Christliche Gesellschaftslehre an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main lehrte.

In der Theorie der Wirtschaftsliberalen werde der Markt als ein evolutionäres System verstanden, das sich wie die Natur entwickelt und in dem die Interessen der beteiligten Tauschpartner ausgeglichen werden, so Hengsbach.

Evolution bedeutet in der Biologie: „Survival of the Fittest“. Überleben werden nur die am besten angepassten Individuen. In diesem Sinne hat der britische Sozialphilosoph Herbert Spencer (1820-1903) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Darwinsche Evolutionstheorie für das Gesellschafts- und Wirtschaftsleben umgedeutet. „Andere Wirtschaftstheorien sagen das genaue Gegenteil“, sagt Hengsbach. „Es gibt nicht das freie Spiel der Kräfte. Wenn jeder nur seinen eigenen Nutzen sucht, kommt das Gemeinwohl irgendwann unter die Räder.“

„Homo homini lupus“ oder kategorischer Imperativ?

Thomas Hobbes. Foto: dpa

Was stimmt nun? Was schmiert den Motor der regionalen, nationalen und globalen Wirtschaft besser? Ein regelloses Hauen und Stechen, an dessen Ende nur der Stärkste, Brutalste und Skrupelloseste obsiegt?

„Homo homini lupus“ – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, sein gefährlichster Feind. Diese Prämisse vertrat der englische Philosophen und Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588-1679). „Selbst die Guten (müssen) bei der Verdorbenheit der Schlechten ihres Schutzes wegen die kriegerischen Tugenden, die Gewalt und die List, d.h. die Raubsucht der wilden Tiere, zu Hilfe nehmen“, schreibt er in seinem staatsphilosophischen Hauptwerk „Leviathan“.

Oder gilt das, was Immanuel Kant (1724-1804) auf die Frage „Was soll ich tun?“ antwortete: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“

Für den deutschen Aufklärungsphilosophen ist dieser Satz die oberste und allgemeinste Handlungsanweisung in der Philosophie, das höchste, zeitlos und allgemeingültige Prinzip der Moral – ein kategorischer Imperativ.

Moralisch und autonom handelt demnach nur derjenige, der sich allein von der Pflicht und dem Sittengesetz leiten lässt. Freiheit bedeutet nicht Schrankenlosigkeit, Maßlosigkeit und Gier, sondern Gehorsam gegen das sich selbst erklärende und über allem stehende Sittengesetz, das jeder in seinem eigenen Gewissen erkennt.

Markt und Moral

Kann es, um einen Slogan des Ökonomen Kurt Albach zu verwenden, eine „Betriebswirtschaftslehre ohne Unternehmensethik“ geben? Ist der Glaube an die reinigenden Marktkräfte eine ökonomistische Fiktion? Anders gefragt: Ist eine Wirtschaft ohne ethisch agierende Individuen haltbar und wünschenswert?

Nein, sagt der Ökonom Friedhelm Hengsbach. In Deutschland sei das Konzept der sozialen Marktwirtschaft aus gutem Grund entworfen worden. Der Wettbewerb soll dafür sorgen, dass sich die Preise frei bilden.

Aber der Wettbewerb allein würde sich selbst aufheben. Es käme sehr schnell zu einer Vermachtung der Wirtschaft, so dass am Ende ein Monopol übrig bleiben würde. „Damit dieser Wettbewerb überhaupt funktioniert, braucht es eine rechtliche und politische Regulierung.“

„Finanzmärkte sind amoralisch“

George Soros. Foto: dpa
Vollblut-Kapitalisten wie der amerikanische Investor George Soros sehen in der Beziehung zwischen Wirtschaft und Ethik einen unaufhebbaren Selbstwiderspruch. „Profitmaximierendes Verhalten folgt dem Diktat der Zweckmäßigkeit und ignoriert die Forderungen der Moral. Finanzmärkte sind nicht unmoralisch, sondern amoralisch“, betont Soros. Menschen mit Skrupeln hätten in diesem knallharten Umfeld keine Chance.

Das bestätigte auch ein Manager eines global agierenden Unternehmens einmal gegenüber dem Tübinger Theologen Hans Küng, der sich in seinem „Weltethos“-Projekt“ für ethisches Wirtschaften und globale soziale Gerechtigkeit ausspricht. „In unserem Unternehmen ist das Wort Ethik verboten.“

Wenn man wie der Multimilliardär und Großfonds-Manager Soros auf der ökonomischen Gewinnerseite des Lebens steht, lassen sich derlei Slogans leicht hinausposaunen. Doch mit den Augen der Verlierer der Globalisierung betrachtet – der Opfer, Besiegten und Vergessenen des geschichtlichen und ökonomischen Fortschritts sieht das schon ganz anders aus.

Markt, Wirtschaft, Werte

Dass Markt und Wirtschaft sozial und trotzdem erfolgreich sein können, beweist das Konzept der sozialen Marktwirtschaft. Mit ihr im Gepäck mauserte sich das vom Krieg und NS-Regime total verwüstete Deutschland von der „Stunde Null“ zum „Wirtschaftswunderland“.

„Soziale Marktwirtschaft bedeutet auf der einen Seite funktionsfähiger, dynamischer Wettbewerb in der entsprechenden Rahmenordnung, auf der anderen Seite sozialer Ausgleich“, erläutert Hengsbach. „Wenn es um Menschen geht, die unterschiedlich leistungsfähig sind, muss es solidarische Leistungen jenseits von Angebot und Nachfrage geben.“

Als komplexer, weltweit vernetzter Mechanismus funktioniert die Ökonomie nach bestimmten Regeln. Trifft das zu, was Soros behauptet, wäre Wirtschaft – im Extremfall – ethischem Denken und dessen Fragestellungen gegenüber geradezu hermetisch abgeschlossen. Was zählt, wäre der maximale Gewinn der miteinander rivalisierenden Individuen, wie es der liberale Manchester-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts propagierte. Nach dem Motto: Was uns nicht umbringt, härtet uns ab.

„Brutalo-Evolutionismus“

Anders als in diesem gesellschaftlichen „Brutalo-Evolutionismus“ ist der „Homo oeconomicus“ von Adam Smith (1723-1790), dem Vater der Nationalökonomie und Autor einer „Theorie der moralischen Gefühle“ gekennzeichnet. Wie durch eine unsichtbare Hand werden die Einzelnen dahin gelenkt, dass sie, indem sie der Triebfeder des Eigennutzes folgen, zugleich dem Gemeinwohl dienen.

Auf dieser sozio-ökonomischen Grundlage hat sich die Ethik des Utilitarismus entwickelt, die gegen den enthemmten Manchester-Kapitalismus als Ziel der Wirtschaft das höchstmögliche Glück der höchstmöglichen Zahl postuliert.

Der weitsichtige „Homo oeconomicus“ folgt auch moralischen Prinzipien, sobald er die Folgen seines Handelns in seine Entscheidungen einbezieht. Er strebt nicht die isolierte Gewinnmaximierung um jeden Preis und auf Kosten anderer an, sondern einen höchstmöglichen und nachhaltigen Gesamtnutzen seines Handelns.

Unternehmer und Moral

Regeln und Tugenden seien Verhaltensstandards, die für alle gleichermaßen gelten, unterstreicht der Stuttgarter Unternehmensberater und Autor Rudolf X. Ruter. „Unternehmerische Führung ist die Kunst, Menschen zu überzeugen und sie zur Gefolgschaft einzuladen, sodass sie freiwillig das tun, was ich, die Führungskraft, für das Richtige halte für mein Unternehmen.“

Und Ruter fügt hinzu: „Führung ist der Lackmustest der inneren Werte-Orientierung und des eigenen Moralkompasses. Bei der Ausführung von Führungsverhalten kann nur sehr schwer versteckt, simuliert und vorgegaukelt werden.“

Welche Wirtschaftsethik ist die richtige?

Doch welcher Ethik sollen Wirtschaft, Unternehmer und Konsumenten folgen? Einer Tugendethik, in der man das Handeln des Einzelnen beurteilt? Dies führt zu einem Fehlschluss, wenn man ihn für Systemfehler haftbar macht. Wenn etwa, so Friedhelm Hengsbach, die hohe Arbeitslosigkeit auf jene zurückgeführt wird, die arbeitslos sind – oder die Ursache der Finanzkrise auf die Gier der Banker und Devisenhändler geschoben.

Also doch besser eine Verantwortungsethik? „Von Unternehmern wird sie verständlicher Weise vertreten. Sie sagen: Wir sind dafür verantwortlich, dass sich das Unternehmen auf dem Markt behauptet und einen Gewinn erzielt, sonst ist das Unternehmen pleite.“

Weder noch sagt Sozialethiker Hengsbach, weil beide Konzepte zu kurz greifen. Wie die Ökonomie sei auch die Ethik das Ergebnis einer gesellschaftlichen Verständigung. „Normative Überzeugungen und allgemein verbindliche Regeln fallen nicht vom Himmel. Moderne, weltanschaulich neutrale und plurale Gesellschaften müssen durch einen kollektiven Prozess der Entscheidungsfindung festlegen, was für sie als moralisch richtig und allgemein verbindlich zu gelten hat.“

Moral braucht Regeln, Wirtschaft braucht Moral

Moral braucht Regeln, Instrumente und Akteure, die dafür sorgen, dass sie eingehalten und umgesetzt wird. Moral in der Wirtschaft ist kein Ist-Zustand, sondern ein Prozess des Werdens.

„Wirtschaftsethik“, sagt Hengsbach, „ist das Ergebnis eines Suchverfahrens, das auf wechselseitiger Verständigung beruht. „Das Ergebnis eines solchen Verständigungsprozesses in modernen Gesellschaften sind allgemein verbindliche Regeln – das Grundgesetz oder andere freiheitliche, soziale und demokratische Verfassungen, die Menschenrechte, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Respekt vor der natürlichen Umwelt.“

Moralische Handlungsnormen entstehen durch gesellschaftliche Verständigung. Sie verkörpern sich in politischen Prozessen, gesetzlichen Regelungen und zivilgesellschaftlichen Initiativen. Produzenten, Arbeitnehmer und Konsumenten passen sich an veränderte normative Regeln flexibel an.

Das bedeutet aber auch: Der Staat, die institutionalisierte Gemeinschaft, muss die Regeln festsetzen, damit der einzelne Unternehmer nicht von anderen „platt“ gemacht wird oder der Arbeitnehmer nicht unter die Räder kommt, wenn sie sich verantwortlich und moralkonform verhalten. Hengsbach: „Darin liegt die Stärke einer Regel- und Normenethik. Normen unterscheiden sich klar von Werten, Tugenden und persönlicher Verantwortung.“

Wirtschaft und Moral

Normen sind gesellschaftliche Vereinbarungen, die als allgemein verbindlich gelten. Wie beispielsweise die Norm moralischer Gleichheit: Wer als Gleicher anerkannt und behandelt werden will, muss anderen das gleiche Recht zuerkennen.

Der Mensch ist niemals nur ein bloßes Instrument zur Gewinnmaximierung, sondern muss immer auch als Zweck in sich selbst anerkannt werden. „Die Menschenrechte sind die Verkörperung einer solchen Grundnorm der Gerechtigkeit. Werte sind zu subjektiv, Tugenden zu individuell, Verantwortung gibt es nur im Rahmen der jeweiligen Handlungsmöglichkeiten“, erläutert Hengsbach.

Diese Erkenntnis scheint vielfach verloren gegangen zu sein. Das gilt umso mehr in Zeiten einer entfesselten Globalisierung, die alle moralischen Fesseln zu sprengen scheint. Ist das Gerechtigkeitspostulat, das Immanuel Kant zur obersten Handlungsmaxime erhoben hat, zur hohlen Phrase ausgehöhlt worden? Wird es in Zukunft mehr oder weniger Moral in der Wirtschaft geben?

„Ich glaube“, sagt Friedhelm Hengsbach optimistisch, „dass die Menschheit und die jeweiligen Gesellschaften auch moralisch lernfähig sind.“