Alexander Pitchuschkin (42), der als „Schachbrettmörder“ und der „Irre vom Bitza-Park“ in die Annalen der russischen Kriminalgeschichte eingegangen ist, war Hilfsmitarbeiter in einem Supermarkt. 2007 wurde er wegen 49-fachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Foto: dpa

Ob jemand zum Mörder wird, bestimmen auch biologische Faktoren, sagt die Gießener Strafrechtlerin und Kriminologin Britta Bannenberg. Doch weder gebe es ein „Mörder-Gen“ noch eine genetische Vorbestimmung des Schicksals.

Stuttgart - „Die Saat der Sünde ist im Gehirn angelegt“, schreibt der amerikanische Neurokriminologe Adrian Raine in seinem Buch „Als Mörder geboren. Die biologischen Wurzeln von Gewalt und Verbrechen“ (517 Seiten, Klett Cotta, 28,95 Euro). Das Buch liegt voll im Trend. Gerade in den diversen „CSI“-Serien spielen abnorme Serienmörder eine zentrale Rolle. In den vergangenen Jahren sind in den Medien immer wieder Berichte aufgetaucht, wonach bestimmte Gene das menschliche Verhalten massiv beeinflussen sollen. Insbesondere das MAOA-Gen – das „Killer-“ oder „Mörder-Gen“ – hat die Fantasie von Hirnforschern, Kriminologen und Krimifans beflügelt.

 
Frau Bannenberg, stimmen Sie der These des Neuropsychologen Thomas Elbert zu: „In bestimmten Situationen kann man jeden Menschen zu einem Verbrecher machen. Aber man kann auch schon zum Verbrecher geboren werden?“
Britta Bannenberg. Foto: dpa
Das ist schon richtig. Es gibt in seltenen Fällen derart schlechte Ausgangsvoraussetzungen. Da ist genetisch schon sehr viel vorbestimmt. Das heißt allerdings nicht, dass es einen Automatismus gibt, bei dem man zwangsläufig zum Mörder wird. Aber es können sehr schlechte Voraussetzungen in der Disposition und für bestimmte Persönlichkeitsentwicklungen vorhanden sein, die schwer positiv zu beeinflussen sind.
Und dies ist erst seit Einzug der Hirnforschung in die Kriminologie bekannt?
Das ist schon lange über forensisch-psychiatrische und psychologische Täterforschung bekannt. Nur kann es heute mit Hilfe neuer Methoden, insbesondere bildgebenden Verfahren wie Positronen-Emissions-Tomografie (PET) und MRT – zum Beispiel Hirnscans –, besser belegt werden. Empirische Untersuchungen über (Gewalt)-Täter zeigen schon lange Risikofaktoren in Persönlichkeit, Verhalten und Werteinstellungen, die Gewalt wahrscheinlicher machen. Die Neuropsychologie bestätigt die Erkenntnisse.
Warum werden Menschen zu „Bestien“?
Es gibt gerade im Bereich schwerer Gewalt Menschen, die haben keine Empathie. Sie sehen den anderen nicht als Menschen und empfinden kein Mitgefühl, sie denken nur an sich selbst und die Durchsetzung ihrer Interessen. Sie können auch aus verschiedenen Gründen Spaß an der Gewalt und der Dominanz über andere Menschen haben. Teilweise ist dies genetisch bedingt. Bei vielen kommen aber negative Erfahrungen, insbesondere Vernachlässigungen oder Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend, hinzu.
Und daraus entsteht eine gefährliche Mixtur, die Mord hervorbringen kann?
Bei vielen Gewalttätern vereinen sich fehlendes Mitgefühl, Machtbedürfnisse und eine Bereitschaft, die eigenen Interessen aggressiv und gewaltsam durchzusetzen. In Extremsituationen wie in Bürgerkriegen bricht die stützende soziale Ordnung zusammen. Was gestern Unrecht war, ist heute erlaubt. Unter diesen Umständen kann es dazu kommen, dass Mord auf einmal möglich ist. Viele Menschen – vor allem Männer – leben dies dann gewaltsam und genussvoll aus.
Auch wenn es kein „Mörder-Gen“ gibt, kann trotzdem jeder zum Mörder werden?
Unter gewissen Bedingungen, wie Elbert zutreffend sagt, sind sehr viele Männer – weniger Frauen – sehr schnell zu Gewalt bereit. Deshalb war es auch möglich, dass während des Nationalsozialismus etwa in Litauen Anfang der 1940er Jahre deutsche Polizeibeamte Zehntausende Menschen umbrachten, obwohl sie sonst biedere Spießer waren. In Kriegssituationen brechen für viele die im Frieden aufgebauten Hemmschwellen.
Ist Deutschland im internationalen Vergleich ein Land der Seligen?
In sicheren Ländern wie Deutschland ist das Gewaltniveau durch Strafverfolgung und Polizeipräsenz relativ niedrig. Die Rate der Tötungsdelikte ist im internationalen Vergleich sehr niedrig. Die meisten Menschen sind durch soziale Kontrolle und die ständige Erinnerung, Normen und Gesetze zu beachten, kognitiv darauf gepolt: Gewalt ist bei uns nicht erlaubt. Wenn man sie ausübt, bringt das schwere Konsequenzen mit sich. Deshalb haben die meisten sich einigermaßen im Griff.
Wenn dem nicht so wäre, würden auch die Bundesbürger gewalttätiger agieren?
Wenn sich die gesellschaftlichen Bedingungen grundlegend ändern würden, wäre auch in Deutschland in drei Wochen alles möglich. Das muss man immer wissen.
Der Mörder – was ist das für ein Typus?
Den Mörder gibt es nicht. Motive sind sehr unterschiedlich, Persönlichkeiten auch. Unter den Bedingungen des funktionierenden Rechtsstaates fallen unter den Mehrfach- und Intensivtätern psychopathisch geprägte Personen als äußerst problematisch auf. Menschen mit sadistischen und devianten (also von der Norm abweichenden) Sexual- und Gewalt-, auch Tötungsfantasien haben keine Empathie und fühlen sich anderen überlegen, werten sie ab. Sie empfinden keine Reue und genießen ihre Vorstellungen, die sie irgendwann auch gegenüber fremden Opfern in die Tat umsetzen. Diese Täter suchen ihre Opfer. Gegenüber Konflikt- und Affektsituationen sind das aber eher Ausnahmen.
Der US-Kriminalpsychologe Adrian Raine fordert in seinem Buch „Als Mörder geboren“, potenzielle Killer wegzusperren. Sieht so die Zukunft aus?
Verbrechen präventiv zu erkennen und potenzielle Täter vorsorglich wegzusperren, das ist Hollywood. Ich glaube, so etwas wird nicht passieren. Das sind Szenarien von Regisseuren und Nicht-Juristen. Vor einigen Jahren haben Hirnforscher wie Singer und Roth vorgeschlagen, das Strafrecht abzuschaffen, weil den Tätern gar kein Schuldvorwurf zu machen sei. So eine Schnellschussidee würde heute nicht mehr vorgeschlagen. Auch Neurowissenschaftler sind viel vorsichtiger geworden mit solchen Äußerungen.
Brauchen wir die Neurokriminologie?
Kriminologie muss alle neuen Entwicklungen aufnehmen, auch die der Hirnforschung, aber abgewogen über Konsequenzen nachdenken. Wenn ein Kind bereits im Kindergarten negativ auffällt und andere drangsaliert, sobald Erwachsene ihm den Rücken zuwenden, brauche ich keinen Hirnscan, um zu erkennen, dass hier etwas schiefläuft. Man muss ein Auge auf ein solches Kind haben und versuchen, ihm beizubringen, dass Normen einzuhalten sind, wenn man friedlich zusammenleben will. Bei den meisten ist die Fähigkeit dazu vorhanden. Die Umwelt trägt erheblich dazu bei, dass Menschen mit riskanter Veranlagung nicht zum Verbrecher werden.
Welche Rolle spielt die Sozialisation?
Ob jemand in extrem gewalttätiger Form agiert, hat auch damit zu tun, in welchem Umfeld er aufwächst. Erwachsene sind prägend für die frühen Erfahrungen. Wird von Erziehenden Gewalt ausgeübt und befürwortet, fehlt es an warmherzigen Beziehungen und Verhaltenskontrolle, sind das gewalt- und kriminalitätsfördernde Voraussetzungen. Merkt ein Kind, dass es sich mit Rücksichtslosigkeit und Gewalt durchsetzen kann, lernt es, Gewalt positiv zu bewerten. Deshalb würde ich Horrorszenarien wie „Als Mörder geboren“ auch nicht an die Wand malen.

Zur Person: Britta Bannenberg

Seit 2008 lehrt die 52-Jährige Rechtswissenschaft und Kriminologie an der Universität Gießen. Zuvor war sie (2002–2008) Professorin für Kriminologie, Strafrecht und Strafverfahrensrecht an der Universität Bielefeld. Sie ist Vorstandsmitglied der Kriminologischen Gesellschaft und im wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Forums für Kriminalprävention.