Mit spezialisierter Technik werden positive Coronaproben auf Virusmutanten untersucht (hier ein Bild aus einem Heidelberger Labor). Foto: dpa/Uwe Anspach

Es sind nur Tröpfchen unterm Mikroskop: Speziallabore wie in Tübingen helfen bei der Suche nach Corona-Varianten. Doch ihre Arbeit braucht Zeit – die man eigentlich nicht hat.

Tübingen - An diesem Freitagabend wird Christina Engesser wieder den NextSeq anwerfen. So heißt die Maschine, die positive Coronaproben schluckt und genetisch aufschlüsselt. Tags darauf ist das Ergebnis da: um welche Virusvariante handelt es sich?

 

Es sind nur kleine Tröpfchen, aus denen die 42-Jährige diese Information gewinnt. Mit Chemie und Enzymen wird das Genmaterial isoliert und vervielfältigt. „Man sieht da leider sehr wenig, das ist eine eher abstrakte Arbeit“, sagt Engesser. Trotzdem sind die acht Proben, die über Nacht analysiert werden, ein winziger Baustein in der nächsten Phase der Pandemie.

Ausbrüche im ganzen Land

Deutschland gewöhnt sich gerade an niedrige Infektionszahlen und gelockerte Regeln. Doch die Warnungen nehmen zu, dass sich unterschwellig eine vierte Welle aufbaut, befeuert durch die in Indien entdeckte Delta-Variante. Längst gibt es auch in Baden-Württemberg Ausbrüche, etwa in einem Waiblinger Kinderhaus oder im Kreis Heidenheim. Seit Freitag ist Delta auch in den Kreisen Ludwigsburg und Böblingen nachgewiesen. Die Mutante sei aktuell für mehr als sechs Prozent aller Corona-Neuinfektionen verantwortlich, erklärt das Robert-Koch-Institut. Bayern meldet schon zehn Prozent, in Großbritannien gehen fast alle Corona-Infektionen auf Delta zurück.

Die Variante ist laut einer britischen Studie etwa sechzig Prozent ansteckender als die bislang dominierende Alpha-Mutante. Um den weiteren Pandemieverlauf abschätzen zu können, braucht es also die Arbeit der Delta-Jäger und -Jägerinnen in den privaten und wissenschaftlichen Laboren – also auch dank Christina Engesser und ihrer sieben Kollegen in der Molekularen Diagnostik des Universitätsklinikums Tübingen.

Teil der Lösung

Baden-Württemberg lässt seit dem Winter alle Virusvarianten bestimmen. Damit wolle man einen besseren Überblick bekommen und die Varianten kontrollieren, hatte der Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) damals gesagt. Die Labore sind also ein Teil der Lösung. Doch ihre Arbeit braucht Zeit – die man derzeit eigentlich nicht hat.

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Im Tübinger Labor wird einmal die Woche sequenziert. Die Maschine könnte viel mehr schaffen. Statt der acht Proben, die in der Nacht auf Samstag sequenziert werden, wären bis zu 192 möglich. Derzeit gehen aber nur wenige positive Abstriche im Labor ein. Bittere Ironie der Pandemie: Vermutlich baut sich gerade die vierte Welle auf – aber man muss sie unter dem Mikroskop suchen. Wenn sie erst jeder kommen sieht, ist es zu spät. Wird der Wettlauf mit dem Coronavirus abermals verloren?

Selbst die aktuellsten Daten sind veraltet – zwangsläufig

Engessers Chefin Silke Peter rechnet vor, dass von der Abnahme einer Coronaprobe bis hin zur Genomanalyse mehrere Tage vergehen. Die Uniklinik Tübingen nimmt von allen stationären Patienten einen Abstrich. Bei positivem Befund wird sequenziert. Allerdings sind derzeit nur wenige Proben positiv, deshalb sammelt das Labor sie wochenweise. Bis zur Übermittlung der Genom-Analyse an die Meldesysteme etwa des Robert-Koch-Instituts vergeht weitere Zeit, dann wird analysiert und veröffentlicht. Die Daten, über die derzeit gesprochen werden, gründen also im Zweifel auf Ansteckungen, die zwei Wochen und mehr zurückliegen. Bis man weiß, wie stark sich Delta ausgebreitet hat, ist das Virus längst weitergezogen.

Das Heidenheimer Gesundheitsamt etwa musste diese Woche einräumen, dass es nicht weiß, wie die Deltavariante in den Landkreis kam und wo sie überall hinging. Aus den 57 Infizierten, die vergangene Woche gemeldet worden waren, sind inzwischen fast 100 geworden – trotz umfassender Quarantäne und Kontaktnachverfolgung. Das Landesgesundheitsamt erklärt, dass es nicht sagen kann, wann bei den jüngsten Delta-Fällen im Land die Infektion bestätigt wurde und der Variantennachweis vorlag – geschweige denn, wann die Infektion stattgefunden hat. Klar sei nur, dass Delta „zu einem geringen Anteil in der Bevölkerung bereits in Baden-Württemberg zirkuliert“. Der Behördenleiter, der Arzt Gottfried Roller hatte zuletzt gleichwohl vor Panik gewarnt. „Wenn wir über den Sommer reden, denke ich, dass wir eine Entspannung der Lage erleben werden“, hatte er unserer Zeitung gesagt.

Wer als einer der Ersten die neue Welle bemerkt

Immerhin weiß man dank der Arbeit der Sequenzierlabore mehr über die Ausbreitung der Virusvarianten. Zum Beginn der Pandemie wäre das in dem Ausmaß gar nicht möglich gewesen – es mussten überhaupt erst die technischen Möglichkeiten geschaffen werden, das Virus und seine vielen Mutationen genetisch zu entschlüsseln. Die so gewonnenen Daten sind nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Politik relevant. Klar ist: Sollten die Infektionszahlen wegen der Delta-Variante wieder ansteigen, wird Christina Engesser es im Labor als eine der Ersten bemerken.