Wer das erste Mal klettert, der kämpft meist mit der Angst.

Wer das erste Mal klettert, der kämpft meist mit der Angst. Schafft man es, sie zu besiegen, gewinnt man Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Der Münchner

Klettertherapeut Christian Rödling kennt die positiven Gefühle, die der Sport auslöst. Unsere Autorin hat es ausprobiert.

Von Angela Stoll

Vorsichtig taste ich mit der rechten Hand nach dem blauen, rauen Griff über mir, fühle, ob ich ihn fassen kann, greife danach. Den linken Fuß setze ich auf einen roten Knubbel - trägt er mich? Habe ich genug Halt? Langsam ziehe ich mich nach oben. Zehn, zwölf Meter habe ich mich schon in die Höhe gearbeitet. Ich habe alles vergessen, sehe nur noch das Ziel vor mir, die Kette ganz oben an der Wand. Unten, am sicheren Boden, steht Christian Rödling. Er hat das Seil in den Händen, das an meinem Gurt befestigt ist und mich halten soll, falls ich stürze. Wird das gutgehen? Ja, wird schon. Ich arbeite mich weiter empor und berühre die Kette: Ziel erreicht! ¸¸Gut gemacht!', lobt mich Rödling, ich grinse stolz.

Christian Rödling ist einer der wenigen in Deutschland, die Klettern als Teil einer Psychotherapie anbieten. Denn Klettern, das ist für Rödling offensichtlich, wirkt sich positiv auf das Selbstwertgefühl aus. Wer es schafft, seine Höhenangst zu überwinden, der gewinnt neues Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Oft gelingt es dann auch, Ängste in anderen Bereichen zu kontrollieren. ¸¸Manche Leute, die zu mir kommen, wirken wie Pflanzen, die lange kein Wasser mehr bekommen haben', berichtet der 48-Jährige. ¸¸Nach zwei Stunden in der Kletterhalle haben sie schon eine ganz andere Körperhaltung und Ausstrahlung.'

Seit fünf Jahren bietet Rödling, selbst begeisterter Bergsportler, in der Kletterhalle Heaven's gate am Münchener Ostbahnhof Therapiestunden an. Sein Spektrum ist weit: Neben Erwachsenen mit Angstblockaden, Beziehungsproblemen und Essstörungen arbeitet er vor allem mit verhaltensauffälligen Kindern. ¸¸Klettern allein führt noch nicht zum Glück', betont Rödling, ¸¸es sollte schon in eine individuelle Gesprächstherapie eingebettet sein.' Das bedeutet, dass die Klienten zunächst ihre Probleme schildern, dann klettern und anschließend mit Rödling ihre Erlebnisse besprechen.

Wer aber meint, Probleme innerhalb von ein, zwei Stunden lösen zu können, der irrt: Gerade schwierige Fälle erfordern Geduld. Da die Krankenkassen die Kosten in der Regel aber nicht erstatten, sind manchen Klienten die Stunden auf Dauer schlicht zu teuer. ¸¸Gerade die, bei denen die Therapie am nötigsten wäre, können sie sich oft nicht leisten', so Rödling.

Der Klettersport ist in den vergangenen Jahren in Deutschland immer beliebter geworden. Das zeigt sich auch daran, dass eine Halle nach der anderen gebaut oder erweitert wird: ¸¸Wir erleben zurzeit einen regelrechten Bauboom', sagt Thomas Bucher, Sprecher des Deutschen Alpenvereins (DAV), ¸¸auch das therapeutische Klettern liegt im Trend. Viele Hallen haben Angebote in dieser Richtung.'

Am häufigsten wird Klettern von Physiotherapeuten zur Stärkung der Muskulatur eingesetzt, so nach Bandscheibenvorfällen oder Knieoperationen. Aber auch Multiple-Sklerose- oder Schlaganfallpatienten, die teilweise gelähmt sind, können so gezielt ihre Motorik schulen. Daneben profitieren Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Störungen (ADS) vom Klettern, da an der Wand höchste Konzentration gefordert ist. Und Klettern kann auch, wie bei Rödling, Teil einer Psychotherapie sein oder eine erlebnispädagogische Maßnahme für psychisch Kranke oder Drogenabhängige.

So gibt es in der Psychiatrie der Tübinger Uniklinik ein ausgefallenes Angebot: Jeden Donnerstag können die Patienten mit ihren Pflegern in die Kletterhalle gehen. Den Anstoß dazu hat 2001 der Krankenpfleger Alfred Mollenhauer gegeben, der selbst mit Begeisterung klettert. Rund vier Jahre später erarbeitete er mit seinem Kollegen Norbert Doll ein Konzept, das Klettern als festes Therapieangebot vorsieht. ¸¸Inzwischen sind wir ein Team von zehn Leuten, die alle vom DAV ausgebildet wurden. Mehr als 1500 Patienten waren mit uns schon an der Wand', berichtet Mollenhauer. Die meisten von ihnen haben Depressionen, Persönlichkeitsstörungen oder Suchtkrankheiten, auch viele schizophrene Patienten sind dabei. ¸¸Sie leiden darunter, dass sie selten Erfolgserlebnisse haben', sagt der Pfleger. An der Wand spüren die Patienten wieder ihren Körper, sind stolz auf ihre Leistung und lernen, anderen zu vertrauen. Einmal, erzählt Mollenhauer, kam ein psychisch kranker Mann mit zum Klettern, der ein ganzes Jahr von Ängsten gepeinigt in einem Kellerloch gehaust hatte. ¸¸Er war abgemagert, nicht mehr zum Dialog fähig, hatte einen ewig langen Bart und lange Fingernägel.' In der Halle fing er an, mit den Griffen zu spielen und zeigte Mollenhauer schließlich die langen Nägel mit der Aufforderung: ¸¸Schneiden!' Fortan war der Patient immer mit dabei. Nach seiner Genesung sagte er Mollenhauer: ¸¸Klettern war damals für mich wie der Griff in die Realität.'

Demnächst wird eine wissenschaftliche Abhandlung erscheinen, in der die Betreuer der Tübinger Psychiatrie ihre Erfahrungen zusammenfassen. Dafür hat der Diplompsychologe Michael Uldrian, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Tübingen, rund 100 Fragebögen ausgewertet, die Patienten nach den Kletter-Exkursionen ausgefüllt hatten. Die Mehrheit der Befragten berichtet, dass sich ihre Konzentration durch das Klettern deutlich verbessert hätte und ihr Vertrauen zu ihren Betreuern gewachsen sei. Außerdem gaben sie an, dass negative Gedanken in den Hintergrund getreten seien und sie weniger Traurigkeit verspürten. Sogar ihre Zukunft sahen die Teilnehmer etwas hoffnungsvoller.

Inzwischen hat die Tübinger Psychiatrie ihr Angebot erweitert: Die Betreuer gehen mit den Patienten nun auch zum Kanufahren, Radfahren, Erdbeerenpflücken und Angeln. ¸¸Das alles stärkt das Ich der Patienten', sagt Alfred Mollenhauer, ¸¸Klettern war für uns die Initialzündung.'