Theodor Bergmann aus Stuttgart ist tot. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Theodor Bergmann aus Stuttgart, der große politische Kämpfer, Analytiker und Optimist, ist am vergangenen Montag im Alter von 101 ­Jahren gestorben.

Stuttgart - Ein paar Tage bevor er zur Feier seines runden Geburtstags im Familienkreis nach Israel reiste, im März vergangenen Jahres, habe ich ihn zum letzten Mal besucht und seitdem oft an ihn gedacht. Ob er allein reise, hatte ich ihn gefragt. Ja, hat er gesagt, mit dem Taxi nach Degerloch, dann mit der Straßenbahn zum Bahnhof und mit dem Zug zum Flughafen Frankfurt.

Ich konnte es kaum glauben, als er schon kurz nach seiner Rückkehr bei einem Symposium im Clara-Zetkin-Waldheim in Sillenbuch wieder eine Rede hielt. Wie stets mit fester, klarer Stimme, einer speziellen Mischung aus leicht preußischem und doch liebenswürdigem Ton.

Theodor Bergmann wohnte in der Hochhaussiedlung Asemwald, im Volksmund Hannibal genannt, nicht weit von der Universität Hohenheim, wo er lange als promovierter Wissenschaftler gearbeitet hatte, von 1973 bis 1981 als Professor für international vergleichende Agrarpolitik. Er war Weltbürger und Kommunist, ein Linker, der den Stalinismus seit jeher verabscheute. Lange Jahre ist er um den Globus gereist, oft mit seiner Frau Gretel, mit ihr hat er die Weltpolitik diskutiert. Sie stammte aus einer sozialdemokratischen Stuttgarter Familie, den Steinhilbers aus Heslach. 1994 ist sie gestorben.

Theodor Bergmann wurde 101

In seinem im Jahr 2000 erschienenen Buch „Im Jahrhundert der Katastrophen, Autobiografie eines kritischen Kommunisten“, das 2016 zu seinem Geburtstag aktualisiert wurde, heißt es: „Geboren in der Zeit des Ersten Weltkriegs im Kaiserreich, aufgewachsen in der Weimarer Republik, vertrieben vom Hitler-Faschismus und dann zurückgekehrt in die Britische Besatzungszone des viergeteilten Nachkriegsdeutschland, lebe ich nun meine letzten Jahre in der Berliner Republik. Wer viele wirkliche Katastrophen und Tragödien dieses kurzen Jahrhunderts der Extreme überlebt hat und die geringe Halbwertzeit der ,Endsiege‘ der deutschen Bourgeoisie kennt, darf Optimist sein. In meinem Optimismus werde ich durch meine Erfahrung bestärkt.“

Theodor Bergmann, der große politische Kämpfer, Analytiker und Optimist, ist am vergangenen Montag im Alter von 101 Jahren gestorben.

Er hinterlässt als Autor, Herausgeber und Übersetzer mehr als 50 Bücher; seinen Lieblingssatz findet man als Titel einer Textsammlung verschiedener Autoren zu seinem 90. Geburtstag: „Dann fangen wir von vorne an“ (VSA-Verlag, dazu gibt es einen gleichnamigen, 80 Minuten langen Dokumentarfilm auf DVD). Das Zitat ist angelehnt an Friedrich Engels Satz nach der Niederschlagung der Revolution von 1848: „Sind wir aber einmal geschlagen, so haben wir nichts anderes zu tun, als wieder von vorne anzufangen.“ Nach dieser Devise hat Theodor Bergmann gelebt. „Es gibt eine Alternative zum Kapitalismus“, hat er vor seinem Hundertsten gesagt, „alle Versuche sind nur an einer schlechten Politik gescheitert.“

Bergmann, der Sohn eines Rabbiners

Am 7. März 1916 in Berlin geboren, wächst Theodor Bergmann mit seinen Eltern und acht Geschwistern in der Hauptstadt auf. Am 3. März 1933 stirbt Theos Großmutter. Bei ihrer Beerdigung ziehen Nazi-Horden mit „Deutschland erwache“- und „Juda verrecke“-Gebrüll durch die Straßen. Tags darauf – der Sohn eines Rabbiners hat gerade Abitur gemacht – setzen ihn die Eltern am Anhalter Bahnhof mit einem Rucksack und ein paar Reichsmark in den Zug. Er flieht über das Saarland ins damalige Palästina, arbeitet in einem Kibbuz, reist weiter in die Tschechoslowakische Republik, wo er mit seinem Studium der Agrarwissenschaften beginnt. Gleichzeitig schließt er sich dem antifaschistischen Widerstand an. Nach dem Münchner Abkommen 1938 flieht er nach Schweden, leitet mit seinem Bruder Josef die KP-O (Kommunistische Partei-Opposition) und schließt sich der Landesgruppe Deutscher Gewerkschafter an.

Nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur zurück in Deutschland, schließt er 1947 in Bonn sein Studium ab und promoviert 1955 an der Uni Hohenheim, wo er 1965 zu arbeiten beginnt. Nach einer Gastprofessur in Australien erhält er 1973 eine Professur in Stuttgart und gehört in den Siebzigern zu den wenigen Kollegen, die sich für marxistische, vom Berufsverbot betroffene Studenten einsetzen. 1981 beendet er seine berufliche Karriere. 1990 tritt er in die PDS ein, 2007 in Die Linke.

Für seine agrarwissenschaftlichen und politischen Forschungen bereiste er die Welt. Noch in den vergangenen Jahren besuchte er mehrfach China, immer auf eigene Rechnung, nie auf Einladung, und arbeitete an einem Buch über die Entwicklung des chinesischen Kommunismus.

Für seine Freunde war er Ted

Theodor Bergmann, Theo oder auch Ted für seine Freunde, war bis zum Schluss der hellwache Beobachter, gefragte Ratgeber und unersetzliche Zeitzeuge: Er wusste alles über die großen Tage der Stuttgarter Arbeiterbewegung, über ihre Größen: Berta und August Thalheimer, Willi Bleicher, Clara Zetkin, Georg Stetter, Eugen Ochs, Wilhelm Schwab, Friedrich Westmeyer. Bis zuletzt lebte er nach seinem Tagesplan: Schreiben, Essen, Spazierengehen, „Turnen“, wie er seine Übungen nannte. Lange Zeit ging er zum Schwimmen ins Mineralbad Berg.

Und immer schlug er Brücken aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Es sei falsch, sagte er, die rechtsextremistischen Machenschaften angesichts der Geflüchteten im Land mit der Weimarer Republik zu vergleichen. „Diese Attacken sind gefährlich, aber noch nicht faschistisch wie im vorigen Jahrhundert“, sagte er. Bis zuletzt plädierte er für Solidarität zwischen Linken und Sozialdemokraten im Kampf gegen rechts. Und nie verließ ihn die Kraft dagegenzuhalten: „Jammern hat keinen Sinn. Man muss sich wehren.“ Noch als Hundertjähriger warnte er als Gast in Schulklassen vor Krieg und Faschismus. Auch seine schärfsten Gegner schätzten seinen Mut und seine Zuversicht. „Ich hatte nie Zeit zum Klagen“, hat er gesagt. „Mit siebzehn war ich auf mich allein gestellt, und aus jeder Niederlage habe ich gelernt.“

Nie vergessen werde ich seine Begrüßung: „Kommen Sie rein, Sie haben ja saubere Schuhe.“