Nach den Vorstellungen von Jens Spahn soll erst einmal jeder Organspender sein. Foto: dpa

An Stelle einer abstrakten Diskussion über Menschenwürde sollten praktische Punkte besprochen werden, sagt Rechtsprofessor Michael Kubiciel im Interview. Zum Beispiel, wie genau eine Widerspruchslösung bei der Organspende ausgestaltet wird.

Stuttgart - Statt einer abstrakten Debatte über Menschenwürde sollten praktische Punkte besprochen werden, meint der Rechtsprofessor Michael Kubiciel.

Herr Kubiciel, es gibt bei der Widerspruchslösung neben der moralischen auch die rechtliche Problematik. Wie beurteilen Sie diese?

Es kommt auf die Art der Widerspruchslösung an. Bei der strengen Variante ist jeder Organspender, der nicht zu Lebzeiten einer Entnahme widerspricht. Das würde die Zahl der Organspender sicher sehr vergrößern, steht aber nicht zur Debatte. Bei der nun diskutierten doppelten Widerspruchlösung ist dies anders. Hier könnten auch die Angehörigen stellvertretend für den Verstorbenen einer Organentnahme widersprechen. Der praktische Nutzen einer solchen Lösung wäre daher gering: Angehörige, die schon heute um ihre Zustimmung gefragt werden, wenn der Verstorbene keinen Spenderausweis hat, könnten auch in Zukunft widersprechen. Hier ändert sich also nichts Wesentliches.

Das bedeutet, rechtliche Bedenken bestehen nur gegen die strenge Variante?

Ich halte auch diese unter bestimmten Voraussetzungen für verfassungsrechtlich zulässig, aber für systemfremd, wenn man auf andere Regeln schaut, die es am Lebensende zu beachten gibt. Soll zum Beispiel eine lebenserhaltende Behandlung beendet werden, kommt es auf die Angehörigen an, wenn keine Patientenverfügung vorliegt. Da wäre es schon systemfremd, wenn die Angehörigen bei der Frage der Organentnahme übergangen würden.

Wer sich nicht rührt, könnte künftig zum Organspender werden. Ein Schweigen wird so zu einem „Ja“ umgedeutet. Geht das überhaupt?

Zweifellos handelt es sich hier um einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht, weil man widersprechen muss, falls man keine Organe spenden will. Ich halte das allerdings für vertretbar. Das Prinzip ist dem deutschen Recht auch nicht völlig fremd. Es gibt Strafbefehle oder Verwaltungsakte, die automatisch Wirkung entfalten, sobald eine gewisse Frist verstrichen ist und man nicht widersprochen hat.

Über Strafbefehle und Verwaltungsakte wird man aber informiert – hier auch?

Das ist eine Frage der gesetzlichen Ausgestaltung der Widerspruchslösung. Die Bürger müssen über die Folgen informiert werden, und sie müssen die faktischen Möglichkeiten kennen, wo und wie sie einen Widerspruch einlegen können. Diese praktischen Punkte intensiv zu besprechen, halte ich für wichtiger, als eine abstrakte ethische Diskussion zu führen.

Kritiker bemängeln, eine Widerspruchslösung verstoße gegen die Menschenwürde. Zu Recht?

Einen Verstoß gegen die Menschenwürde zu behaupten ist die argumentative Nuklearwaffe der Juristen. Einen solchen Verstoß könnte man diskutieren, wenn jeder ohne Widerspruchsmöglichkeit zur Organspende verpflichtet wird. Das wird zwar gelegentlich gefordert, will aber aktuell niemand.

Sie kennen den Spruch: Zwei Juristen, drei Meinungen. Gilt der auch hier?

Es gibt Kollegen, die sehen eine Widerspruchslösung skeptisch und halten sie für verfassungswidrig. Dem kann ich nicht folgen. Der Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht ist zwar da, er ist aber nicht tiefgreifend und durchaus gerechtfertigt: Pro Tag sterben drei Menschen, weil Spenderorgane fehlen.